PETER UNFRIED über CHARTS
: Ich bin nicht wegdenkbar

Jetzt sind die 40-Jährigen ins Visier der Generationsdeuter geraten: Diekmann, Klinsmann, Kerner und solche. 17 unzusammenhängende, persönliche Anmerkungen eines 40-Jährigen

1. Zwei Tage vor der Geburt meiner Schwester führte man meinen Bruder und mich in das Zimmer, in dem mein Vater aufgebahrt lag. Das war 1968.

2. Jetzt bin ich 40. Wie alle. Ich gebe hiermit gerne zu, dass Pop mein Gedächtnis ist und auch ein großes Zimmer meines kulturellen Zuhauses.

3. In meiner knappen Freizeit stehe ich immer gerne vor dem Plattenspieler und lege erst die Strokes auf und dann die Beatles. Dann die neue Phoenix. Dann Harrisons „All Things Must Pass“ (ist halt doch seine Beste!). Manchmal sage ich auch zu mir: Ein Intellektueller weiß, wovon er lassen muss. Und dann summe ich „Manchmal möchte ich schon mit dir“ vor mich hin.

4. Freitagabend renne ich immer zum Dussmann und kaufe zwei DVDs, den neuen Murakami (wieder mal großartig!), was Leichtes von Luhmann und die neue George Michael. Man will ja anschlussfähig bleiben. CDs kaufe ich, weil ich zu ehrlich zum Brennen bin. Bzw. zu doof. Alles genau wie bei den anderen 40ern, wenn man den Generationsdeutungen der letzten zehn Tage (FAS, SZ, Spiegel) glauben darf.

5. Mit Interesse habe ich da auch wieder zur Kenntnis genommen, dass ich einer Generation von Pennern angehöre. Nichts geworden, kommt auch nichts mehr. Vor uns die Chefs (50-Jährige). Hinter uns die Chefs (30-Jährige). Neben uns die Chefs (Roland Koch und solche). Über uns die diese Gesellschaft moderierenden Frauen (vgl. Schirrmacher, der ja allerdings keine 40 mehr ist). Keiner „von uns“, so die Klage, werde Bundeskanzler. Oder Literaturnobelpreisträger.

6. Dazu kann ich nur eines sagen: Hätte ich Bundeskanzler werden wollen, wäre ich Bundeskanzler geworden. Man muss das wollen – so haben es ja auch Schröder und Kohl geschafft. Der Literaturnobelpreis ist zugegebenermaßen nicht so kalkulierbar.

7. Ich gebe gerne zu, dass ich Frank Schulz („Morbus Fonticuli“) großartig finde, Frank Goosen („Liegen lernen“) gut und Sven Regener („Herr Lehmann“) gelesen habe. Auch pflege ich den schwäbischen Relativsatz („der wo“) wie mein Generationsgenosse Jürgen Klinsmann. Ich saß mal in einer Kneipe, in der auch Ben Becker saß. Und ja: Interrail habe ich gemacht. Aber an den 68ern habe ich mich meines Wissens nie so stark abgearbeitet wie an Berti Vogts oder Bild. Das muss jetzt nicht für mich sprechen, und wenn mich etwas daran individualisiert, dann ist es auch nicht die bloße Haltung, sehr wohl aber deren Qualität.

Kleine Anmerkung: Der Qualitätsunterschied ist nicht per se durch die Gattung zu ermitteln: Gut und schlecht definiert sich zunächst innerhalb der Disziplin. Das andere ist dann eine Frage der Relevanz, aber das führt jetzt zu weit. Vogts habe ich jedenfalls engagiert und doch differenziert, aber nicht aus ideologischen Gründen abgelehnt oder weil er bloß ein Fußballtrainer war, sondern weil er ein hundsmiserabler Fußballtrainer war.

8. Der WM-Sieg 1990 des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) war kein prägendes Ereignis. Wenn in diesem Bereich überhaupt etwas prägend war, dann die Fassungslosigkeit eines Zehnjährigen darüber, dass Netzer beim WM-Finale 1974 nur auf der Tribüne saß.

9. Selbstverständlich verzweifelte ich aber nicht darüber, sondern zog meine Lehren aus Beckenbauers Triumph des Pragmatischen, schwor selbst dem ineffizienten Romantischen ab.

10. Lebensentwurf ist erstens ein blödes Wort und wird hiermit auf die große Tabuliste gesetzt, zweitens nicht durch ein Ikea-Regal im Wohnzimmer definiert. Höchstens durch das, was drauf steht.

11. Wenn ich heute einen 30-Jährigen sehe, muss ich nicht generell kotzen. Manch einer irritiert mich. Sehr. Mehr als Joschka Fischer. Ich kann aber beide anhören. Und Kerner auch. Falls jetzt ein falscher Eindruck entsteht: Nein, ich bin nicht gleichgültig. Oder böse. Ich kann nur viel aushalten. Das gehört für mich auch zum Linkssein.

12. Was die These betrifft, dass wir uns vom Neoliberalen weg- und wieder gen soziale Gerechtigkeit bewegen. Genau darüber reden wir jetzt auch unter uns linken Kita-Eltern. Und darüber, ob man die Kinder der sozial Schwächeren tatsächlich immer weiter mitfinanzieren muss – wenn deren doofe Eltern ihr ganzes Geld für Zigaretten ausgeben. Darauf muss ich eine individuelle Antwort finden.

13. Das Trauma einer Generation sei ihre Wegdenkbarkeit, sagt der sehr kluge und geschätzte Soziologe Heinz Bude. Mein Weggedacht-werden-Können entscheidet sich ausschließlich im Privaten. Und da ist es so: Ich bin nicht wegdenkbar. Nicht mehr. Das klingt arrogant, aber es ist meine Meinung.

14. Ich habe – wie man merkt – keine Ahnung vom Leben der 40-jährigen Ostler oder gar Frauen.

15. Große oder auch bloß gute Literatur braucht ein richtiges Ich. Aus „wir“ kann man allenfalls ein Kochbuch machen. Oder eine Marketingfibel.

16. Falls mein Beharren darauf, keine Generation zu sein und dessen Begründungen Aufschlüsse darüber geben sollten, warum ich gerade deshalb ein typisches Mitglied der Generation 40 bin, bitte ich um sachliche Hinweise. Ich werde sie mir in aller Ruhe anhören.

17. Mein Bruder heißt übrigens Unfried. Meine Schwester auch. Wenn ich jetzt zu denen ginge und ihnen sagte, wir armen Halbwaisen seien ja eigentlich eine Generation Unfried, dann würden sie sich das verbitten.

Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Fragen zu den Forty-Boys? kolumne@taz.de Dienstag: Jenni Zylkas PEST & CHOLERA