Pop als Ehegattenmodell

6. April 1974, Brighton: Abba siegen im Grand Prix Eurovision

VON JAN FEDDERSEN

Die Proben im Dome von Brighton verliefen an diesem Freitag okay. Manager Stikkan Andersson hatte ein Rudel englischer Boulevardjournalisten eingeladen, keine Feingeister des Musikjournalismus, nur Scouts kommender Sensationen. Sie sollten berichten über sein Produkt, seine Herzensangelegenheit, über Björn und Benny, vor allem aber, Andersson war wenig zimperlich, auf eines hinweisen: die sexy Sängerinnen.

Sie hießen Agnetha und Annafrid, und keiner der Fotografen und Printjournalisten konnte ihre Namen richtig aussprechen. Skandinavisches in britischen Kehlen – nein, das ging nicht. Aber die Medienchronisten sagten „Ah“ und „Oh“, nur wenige schienen gelangweilt. Zwei Paare als Popstars, konnte das Anklang finden? Andersson, der Mann, der Abba erfand, der aus den vier SchwedInnen ein Label schlechthin machte, in ästhetischer wie ökonomischer Hinsicht, war davon überzeugt. Sie machten Musik, die weniger roh und lüstern klang als die Unterhaltungsware sonst. Nicht wie Slade und Sweet, Alice Cooper oder die Rolling Stones, die gerade ihren zweiten Frühling („Angie“) hinter sich hatten. Abba, so erläuterte Andersson es einmal einem schwedischen Journalisten, war der Versuch, aus der Idee einer doppelten Familie so etwas wie eine dezente, lustige Erotik des Pop zu gebären.

Abba, das Produkt dieser Idee, waren dem schwedischen Kulturestablishment verhasst. Mit denen sollte Schweden, das Land der feinen Lebensart, im Ausland reüssieren? Die sollten für politische Aufklärung und pädagogischen Feinsinn stehen – Haltungen, an denen damals in Schweden alles gemessen wurde? Abba waren in den besseren Kulturkreisen Stockholms unter aller Würde, es klang weder wie Astrid Lindgren nach Noten noch hallte in ihrer Musik der Zorn von Autoren wie Maj Sjöwall und Per Wahlöö nach.

Nun, das Publikum hatte ihren Song „Waterloo“ gerne gewählt und für Schweden gen Brighton ins Rennen geschickt. Er war, anders als der Phil-Spector-mäßig toupierte Song „Ring Ring“, mit dem Abba im Jahr zuvor beim Eurovisions-Vorentscheid nur Dritte wurden, frisch, trashig, vital, sexy, herrlich anspruchslos und international präsentabel – zumal in jenem Jahr nicht auf Englisch gesungen werden durfte.

Die vier von Abba kriegten von den Marketingmühen ihres Managers an jenem 6. April nur wenig mit. Annafrid und Agnetha bummelten durch Brighton, schliefen aus und hofften, abends auf der Bühne weder mit den Plateauschuhen zu straucheln (die Blonde) noch auf den Saum vom Batikfummel zu treten (die Brünette). Sie hatten keine Ansprüche auf den Sieg, sie wollten sich nur nicht blamieren. Bis zu jenem Tag hatte den Eurovisions-Wettbewerb noch nie ein Song gewonnen, der Menschen jenseits des dreißigsten Lebensjahres verschrecken könnte – und die Juroren, die damals über sie abzustimmen hatten, hielten auch eher auf Konservatives, Gediegenes.

Andere waren favorisiert, Ireen Sheer für Luxemburg, sogar Cindy & Bert für Deutschland, aber auch Olivia Newton-John für United Kingdom. Alle Ambitionen waren allerdings zerbröselt, als Abba am Abend ihre Show entfalteten. So trat noch nie jemand auf: schrill, unerhört bunt, riskant gut gelaunt, ganz und gar lebensfroh. Schließlich gewannen sie, wenn auch nicht haushoch, wie Legenden heute gern glauben. Nur wenige Punkte trennten die Schweden vom zweiten Platz. Hätten die Franzosen nicht wegen des Todes von Präsident Georges Pompidou kurzfristig auf eine Teilnahme verzichtet, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen. Ist sie aber nicht.

Der Rest? Abba wird nun auch in der Heimat Respekt gezollt; deren Kulturestablishment musste, beleidigt zwar, von gewohnter Deutungsmacht lassen; international räumten Abba ökonomisch ab wie keine Band sonst. Ästhetisch sind sie sogar stilbildend geblieben. Mehr war nicht im Spiel.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, hält Abba alles in allem für wichtiger als die Beatles, aber nur etwas gewichtiger als Elvis. Trotzdem bevorzugte er damals Gigliola Cinquetti mit „Si“