Kleine Dinge riesig

Ein Trostbuch für Gehetzte, Verarmte und notorisch Unzufriedene: Nicholson Bakers neuer Roman „Eine Schachtel Streichhölzer“

VON JÖRG MAGENAU

Kein Sex, kein Blut, keine Tränen. Kein Terror, keine Kriege, keine Not. Nur eine Schachtel Streichhölzer. Und eine kleine Ente, die den Winter draußen vor dem Haus verbringen muss und dabei kalte Füße bekommt. Oder nicht? Sind Enten anders gebaut, besser durchblutet, abgestumpfter? Emmett, der Ich-Erzähler dieser wunderbar intakten Welt in der amerikanischen Provinz, erprobt einen Wintermonat lang das Leben als Frühaufsteher. Er hat Haus und Garten, Frau und Kinder, Auto und Ente. Vor allem aber: sich selbst. Dreiunddreißig Mal kommt er die Treppe herunter, tastet im Dunkeln zuerst nach der Kaffeemaschine, nach Filterpapier, Kaffeepulver und Wasserhahn, dann nach den Streichhölzern, um das Feuer im Kamin zu entzünden. Schließlich ist das letzte Streichholz aufgebraucht, das Buch zu Ende und Emmett kriecht zurück ins Bett zu seiner Frau. Dreiunddreißig Mal hat er vorgeführt, wie man den Tag beginnt. Denn zweifellos ist es tagtäglich ein äußerst kritischer Moment, wenn der Mensch, der aus der Traumwelt kommt, sich wieder in seiner gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit einfinden muss. Emmett bewältigt diesen Augenblick, indem er sich Zeit lässt und den Übergang gleitend gestaltet. Die erste Stunde muss im Dunkeln verbracht werden, Außenwelt und Innenwelt berühren sich dann in seltener Übereinstimmung. Vielleicht ist es dieser Zustand, den man als Glück bezeichnet. Und das gleich dreiunddreißig Mal!

Morgens um fünf ist die Welt noch in Ordnung. Es schlafen ja alle. Und es ist Winter. Da ist man mit den Gedanken allein. Emmett hat die Welt im Kopf und die Füße am Feuer. Dreiunddreißig Mal bewegt er sich vorsichtig und umsichtig nach der Maxime, dass das, was man morgens als Erstes tut, den ganzen Tag beeinflussen kann. Wer sackkraulend zum Computer schlurft, um E-Mails zu checken, wird den ganzen Vormittag nach Elektronik gieren. Das wäre falsch. Besser ist es, nach einem Buch zu greifen, auch wenn sich, weil es dunkel ist, nur ein einziges Wort entziffern lässt. Das Wort heißt: „beinahe“. Das reicht aus, um den Tag zu retten. Man kann mit den Fingerkuppen drüberstreichen, kann die Körnigkeit des Papiers prüfen, kann beobachten, wie es im Dämmerlicht langsam scharf wird.

Nicholson Baker ist ein Mythologe des Alltags. Er erzählt von den kleinen Dingen des Lebens und macht sie ganz groß. Die Freude, die es bereitet, einen Becher aus der Spülmaschine zu nehmen oder einen Apfel zu essen, gibt ihm Stoff genug für seitenlange Reflexionen. Emmett, dem Autor recht ähnlich, interessiert sich für die Muster auf Küchenpapierrollen und denkt darüber nach, eine Sammlung anzulegen. Wenn er ein Bündel Briefumschläge in der Hand hält, fällt ihm auf, dass sie in der Mitte einen harten Klumpen bilden, so als wäre in den Umschlägen etwas drin. Dabei sind sie leer. So macht es auch Baker. Aus jedem Nichts zaubert er etwas hervor, und seien es nur ein paar harmlose Gedanken. Sie ziehen vorbei wie die Wolken am Himmel oder vielmehr „wie ein Güterzug mit Sirenen und Gebimmel; es dauert einige Minuten, bis sie vorüber sind, dann sind sie weg“.

Bakers Lebenskunst ist eine Ökonomie der Sparsamkeit. Er spart an Zeit und an den Dingen. Egal, wie eintönig das Leben eines durchschnittlichen amerikanischen Mittelschichtlers auch ist, Baker macht es reich, indem er den Mikrokosmos der Normalität als Wunderwelt der Entdeckungen zeigt. „Große Wahrheiten“, schrieb er in einem Essay, „werden wie gütige Madonnen von Dutzenden geschäftiger, fröhlicher Engel des Details hochgehalten.“ So wird aus jeder Macke im Kaffeebecher eine Reichtumsentfaltung. Um die Dinge in ihrer Vielfalt zu erkennen, muss man die Zeit dehnen. Nur wenn sie langsam vergeht, lässt sich der Augenblick genießen. In dem Roman „Die Fermate“ erfand Baker einen Helden, der mit einem Fingerschnipsen die Zeit anhalten konnte. Emmett schafft das durch Wiederholung. Jedes Kapitel beginnt mit der höflichen Begrüßung „Guten Morgen“ und der zuverlässigen Zeitansage.

Der Effekt, der sich einstellt, ist Beschaulichkeit in Ewigkeit. Oder doch zumindest so lange, wie eine Schachtel Streichhölzer hält. Das Buch lässt sich auch als Trostbüchlein für Gehetzte und Verarmte lesen. Wer einen Mangel empfindet, der sieht vielleicht bloß nicht genau genug hin, um den Reichtum der Welt auseinander falten zu können. Wenn wir alle einmal mit gekürzten Renten und weiter steigenden Krankenkassensätzen unseren Ruhestand fristen, wird Nicholson Baker unser Ratgeber sein. Es ist der Sachverwalter der Bescheidenheit, der Heim und Herd und Beschaulichkeit endlich vom Verdacht des Spießigen befreit.

Emmetts heitere Gelassenheit zu früherer Stunde ist unerschütterlich. Er liebt Frau und Kinder. Er hat sich damit abgefunden, dass sein Haar sich lichtet, und hat auch akzeptiert, dass er ohne Bart nicht attraktiver wäre. Wer schon als Kind Rhinoenteromophthoromykose buchstabieren kann, weiß, wie sich die Welt sprachlich bewältigen lässt. Er schreibt ohne Trauma und ohne Abarbeitungsbedarf, ohne Rechtfertigungszwang und Rechthaberei. Aber niemals verliert er die Neugier. Er ist ein Held der Zufriedenheit und also ein äußerst seltenes Exemplar der menschlichen Gattung. In der Literatur, die doch auf Problematisches angewiesen ist, um in Schwung zu kommen, trifft man solche Helden eigentlich nie. Gäbe es mehr davon und also mehr solche Bücher wie „Eine Schachtel Streichhölzer“, dann wäre die Welt besser. Ganz bestimmt. Es soll also keiner sagen, dieses Buch sei unpolitisch. Herumnörgeln ziemt sich nicht bei einer solchen Zufriedenheitszusammenballung. Und wer es ohne Unglück nicht aushält: Eine Ente mit kalten Füßen ist doch auch etwas.

Nicholson Baker: „Eine Schachtel Streichhölzer“. Roman. Deutsch von Eike Schönfeld. Rowohlt, Reinbek 2004, 152 Seiten, 14,90 Euro