„Auf diese blöde Idee kommen nur Deutsche“

Steffen Lehndorff vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik erklärt, warum die neuerlichen Forderungen nach einer erhöhten Arbeitszeit nur zu langen Sitzungen auf dem Klo führen und keine Jobs retten

taz: Herr Lehndorff, wie lange haben sie gestern im Institut gearbeitet?Steffen Lehndorff: Etwa 14 Stunden. Wissenschaftler arbeiten immer länger als der Durchschnitt. Wir haben keine Wahl – anders als in der Industrie gibt es keine festen Zeiten.

In den Siemens-Werken in Kamp-Lintfort und Bocholt sollen die festen Zeiten ausgeweitet werden. Arbeiter sollen wieder 40 Stunden arbeiten, um ihre Jobs zu retten.Sie sollten sich nicht darauf einlassen – dann werden sie ihre Arbeitsplätze verlieren. Diese Propaganda zerrt zurück in die Vergangenheit.

Was ist an der Vergangenheit, an der 40-Stunden-Woche so schlecht gewesen?Jede Studie zeigt: Wer seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zwingt, länger zu arbeiten, der senkt die Produktivität. Die Menschen entwickeln Strategien, um sich der Arbeit zu entziehen. Sie werden langsamer, machen längere Pausen, gehen eine Viertelstunde zum Klo. Der Schuss geht für beide, für Firma und Arbeiter, nach hinten los.

Wie sollen denn dann die hiesigen Firmen mit den Arbeitsbedingungen im Osten mithalten? In den letzten Monaten sind Gelsenkirchener Werke nach Osteuropa abgewandert, weil die Menschen dort billiger arbeiten.Damit werden wir nie konkurrieren können. Wir brauchen international eine andere Arbeitsteilung, dann haben wir nicht weniger, aber andere Jobs. Wir brauchen neue Produkte und effektivere Verfahren, keine Hungerlöhne. Die Gehälter kann jedes Land auf der ganzen Welt immer unter das deutsche Niveau drücken, und was machen wir dann? Wir können hier aber Arbeit anders organisieren, andere Abläufe finden, selbständiger arbeiten. Wir brauchen hoch qualifizierte Leute.

Wie soll das im Ruhrgebiet funktionieren? Hier brechen ganze Gruppen von Jugendlichen die Schule ab, viele junge Menschen stehen ohne jede Ausbildung da. Das ist das Dramatische. Anstatt Arbeitern noch mehr Stunden aufzuhalsen, sollten Jugendliche überhaupt erst einmal arbeiten können. Aber je weiter das Ausbildungsniveau sinkt, desto geringer sind statistisch die Arbeitszeiten. Das wissen auch die Politiker, aber ihnen fällt nichts anderes ein, als die Rezepte aus dem 19. Jahrhundert zu wiederholen.

Woran liegt das?Wirtschaft und Politik treiben die Diskussion um längere Arbeitszeiten im Moment wie Säue durchs Dorf. Auf diese blöde Idee ist auch kein Land der Welt in den letzten Jahren gekommen, keiner hat im öffentlichen Dienst die Arbeitszeiten erhöht. Die Deutschen haben dieses Märchen so lange erzählt, jetzt glauben sie selbst daran. Das ist Stimmungsmache: früher sollte auf den Lohn verzichtet werden, jetzt auf die Freizeit.

INTERVIEW: ANNIKA JOERES

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