Massen gegen den Sozialabbau

Überwältigend: Über 120.000 Menschen aus ganz NRW demonstrieren allein in Köln gegen die neoliberalen Konzepte von Regierung und Opposition. Gewerkschaftsbosse geben sich kämpferisch

AUS KÖLN INGRID BÄUMER

„Die Zeit ist reif für ganz ganz ganz viel Zärtlichkeit“, singt Nena auf der DGB-Hauptbühne am Kölner Hohenzollernring. Auf Schmusekurs mit der Regierung sind die Gewerkschafter aber keineswegs eingestellt. „Aufstehen, damit es endlich besser wird“, lautet die Losung des DGB. Mit 50.000 Menschen hatten die Veranstalter gerechnet, mehr als doppelt so viele folgten dem Aufruf. Ein Meer von roten Fahnen wälzt sich über die Deutzer Brücke durch die Innenstadt zum Friesenplatz zur Abschlusskundgebung. Während auf der Hauptbühne Nena schon längst das Mikrofon an die Redner weiter gegeben hat, setzen sich am Messegelände immer neue Demonstranten in Bewegung.

In der bunten Mischung politischer Gruppierungen sind auch einige vertreten, die radikalere Forderungen stellen. Georg Kümmel von der Sozialistischen Alternative (SAV) Köln sieht gerade jetzt die Zeit für eine Radikalisierung gekommen. „Die Wut der Menschen war noch nie so groß wie in diesem Jahr. Es ist höchste Zeit für einen Generalstreik. Was 13 Millionen italienische Kollegen können, darf uns nicht verboten sein!“ Die PDS hat als Alternative zur Agenda 2010 der Regierung eine „Sozialagenda“ erstellt; eine Unterschriftenliste gegen die Praxisgebühr liegt aus. „Da haben schon viele unterschrieben“, sagt Michael Kellner, Ex-Vorsitzender der PDS Köln. Auch die marxistisch-leninistische Partei Deutschlands (MLPD) ist auf lokaler Ebene aktiv: „In 20 Städten unterstützen wir unabhängige, personengebundene Wahlbündnisse“, berichtet Brigitte Becker aus Gelsenkirchen. „Seit Anfang des Jahres gewinnt die Sache an Fahrt, weil die ganz normalen Leute merken, dass es auch für sie schmerzhaft wird.“

Doch sind die Kölner Proteste keine Demonstration der Radikalen, sondern der Gewerkschafter. Ein strenger Geruch von Kohle und Staub entströmt den Uniformen der Kumpels der Grubenwehr Hammer Bergwerk-Ost. Neben ihnen marschieren Feuerwehrmänner aus Essen mit brennenden Fackeln in der Hand. „Damit wollen wir denen da oben mal ordentlich einheizen“, grinst ein Feuerwehrmann.

Nordrhein-Westfalens DGB-Vorsitzender Walter Haas bezweifelt nicht die Notwendigkeit von Reformen, greift aber SPD-Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement frontal an: „Angesichts von sieben Millionen Arbeitssuchenden in Deutschland ist die Diskussion um Arbeitszeitverlängerung makaber.“ Mehrarbeit vernichte Arbeitsplätze. Der IG Metall-Vorsitzende Jürgen Peters legt nach: „Die ham se doch nicht mehr alle“, kritisiert er unter Jubeln des Publikums die Macher der Agenda 2010. „Das ist kein Irrweg, sondern ein Amoklauf gegen den Sozialstaat.“ Peters fordert, mit der Ausbildungsplatzabgabe endlich Ernst zu machen. „Weniger als 25 Prozent aller deutschen Betriebe bilden überhaupt noch aus. Das ist ein Skandal!“ Die Pisa-Studie habe gezeigt, dass die Klassenspaltung längst vergangener Jahre wieder zurück gekehrt sei. Auf Elite-Unis könne Deutschland gut verzichten, aber „nicht auf gute öffentliche Bildungseinrichtungen für alle.“

Martina Wasserlos-Strunk vom Mitveranstalter attac hält fest: „Was unverfänglich Privatisierung genannt wird, ist die feindliche Übernahme weiter Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens zu Lasten der sozialen Sicherheit“ – und fordert ein europaweites Bündnis gegen den Sozialabbau.

Die Redner haben es leicht, ihr Publikum zu überzeugen – bis mit dem Christdemokraten Norbert Blüm der Arbeitsminister der Regierung Kohl ans Mikrofon tritt. Kaum hat er das Wort ergriffen, ertönen Buhrufe und ein gellendes Trillerpfeifenkonzert. „Hört doch mal auf zu schreien, hört doch mal zu“, wehrt sich Blüm. Vergebens. „Das ist doch lächerlich, so ein abgehalfterter Politiker versucht hier noch Wahlkampf zu machen“, kommentiert ein attac-Mitglied aus Aachen. So bekommt kaum jemand mit, was Blüm gegen den neoliberalen Zeitgeist zu sagen hat: „Ich habe mich damals als Arbeitsminister gutgläubig an dem Vorhaben beteiligt, den Kündigungsschutz zu lockern. 300.000 neue Arbeitsplätze wurden vom Handwerkskammerpräsidenten Späth versprochen. Auf die warte ich noch heute.“ Die Gewerkschaftler sollten sich nicht leimen lassen, fordert Blüm. Doch die denken nicht daran, ihm noch irgend etwas abzukaufen, da kann er noch so herzlich „Glückauf“ wünschen.

Zwischen den Reden spielt die Kölner Band Brings „Ich mööch zo Fuss noh Kölle jonn, do es de Sproch, die ich verstonn“. Die mit Bussen angereisten Herner, Wanne-Eickeler und Solinger verstehen zwar vielleicht kein Kölsch. Aber ganz bestimmt die Sprache der Gewerkschaften.