Sehnsucht nach dem Offenbaren

Wen das Leben schlägt, der schlägt der Länge nach hin: Am Deutschen Theater hat Stephan Kimmig „Wolken ziehen vorüber“ inszeniert, das Stück zum gleichnamigen Film von Aki Kaurismäki. Entstanden ist ein verblüffend glaubwürdiges Märchen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wer müde ist, reibt sich die Augen. Heftig, mit beiden Händen zu kleinen Fäusten geballt, reibt sich Oberkellnerin Ilona (Katharina Schmalenberg) die Augen am Ende ihrer Schicht im „Dubrovnik“, bevor sie das Licht ausdreht. Wen das Leben zu Unrecht geschlagen hat, der schlägt der Länge nach hin. Das passiert Lauri (Ingo Hülsman), Ilonas Ehemann, in der Ballade vom arbeitslosen Leben „Wolken ziehen vorüber“ gleich mehrmals: nach der Entlassung als Straßenbahnschaffner, nach dem Verlust des Führerscheins und noch einmal, nachdem er sein letztes Geld im Spiel verloren hat. Das ist eine unhintergehbare Körpersprache, selbst im Theater lesbar bis in den Rang.

Nichts ist hier verborgen, alles ist offensichtlich. Die Situationen sind eindeutig, die Fronten klar: Betrüger sind schmierig und ungewaschen, Bänker wieseln beflissen und schräg durchs Bild, und Ilona und Lauri sind einfach gut. Dass sie verlieren, die Arbeit zuerst und ganz langsam den Mut, ist nicht ihre Schuld. Das Glück, das sie dagegen aufrecht zu halten versuchen, duftet nach Schnitzel am Abend und wird Nacht für Nacht mit einem schallenden Kuss vor dem Einschlafen besiegelt.

Der Regisseur Stephan Kimmig hat am Deutschen Theater in Berlin ein Theaterstück nach Aki Kaurismäkis Film „Wolken ziehen vorüber“ inszeniert. Es ist ein Stück voller Sehnsucht nach dem Übersichtlichen, nach klar strukturierten Bildern und eindeutigen Werturteilen. Die Effektverachtung und das Understatement im Spiel, das Kaurismäkis Filme auszeichnet, hat Kimmig scheinbar mühelos für das Theater übernommen, ebenso wie die stilisierte Überhöhung der Normalität. Die Herkunft „Film“ wird sogar noch betont, indem selbst kleine Geräusche, wie das Klimpern von Münzen und Schlüsseln laut wie nachsynchronisiert klingen.

Für den Regisseur, der sehr unterschiedliche Erzählweisen auf die Bühne gebracht hat, scheint das Stück eine Stilübung und ein minimalistischer Exkurs. Für das Deutsche Theater ist es einerseits eine Referenz an das Kino und andererseits eine Absage an die Programmatik von Chaos und Unübersichtlichkeit, die im zeitgenössischen Theater viel gepflegt wird. Für die Zuschauer ist „Wolken ziehen vorüber“ ein liebevolles Märchen, verblüffend in seiner Glaubwürdigkeit. Denn eigentlich ist kaum mehr vorstellbar, wie solche Dialoge und Szenen frei von Klischees und sozialromantischem Kitsch auf der einen Seite oder Ironie und Zynismus auf der anderen Seite darstellbar sind. Kimmig schafft es denn auch nur, in dem er sich so eng wie noch in keiner seiner Filmadaptionen zuvor („Das Fest“, „Lantana“) an das Original hält.

So ist mit Kaurismäki und den Umweg über Finnland machbar, was mit Brecht zurzeit kaum funktioniert: einen Traum von Gerechtigkeit wieder zu erwecken. Es gab eine Zeit, fast ein Jahrhundert, nein, eher acht bis neun Jahrzehnte ist das her, da glaubten Sozialreformer und Architekten, an einem Strang zu ziehen. Da schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis Industrialisierung und Klassenkampf zum Glück von jedermann führten. Die frühe Moderne entwickelte eine eigene Bilderbuchsprache für die Imagination dieses Traums. Die Mechanik der Maschinen und die Wünsche der Menschen griffen da wie Zahnräder ineinander. An diese Ästhetik, Leben in ein Spiel wie aus einfachen Bauklötzchen zu übersetzen, knüpft die Inszenierung an. Die Wohnung von Ilona und Lauri, die Bühnenbildnerin Claudia Rohner gebaut hat, ist eine „Wohnung für das Existenzminimum“, in der alles auf wenigen Quadratmetern aufgeklappt und ausgefahren werden kann.

Aus dem Mangel eine Ästhetik der Askese zu entwickeln: Darin überschneiden sich die Bilder von Kaurismäkis Filmen und das Design der Moderne in der DDR. Auf diese Überschneidung setzt die Inszenierung. Das Speiselokal „Dubrovnik“, mit dessen Verkauf an eine Kette Ilona die Arbeit verliert, könnte es irgendwo in Ostberlin gegeben haben. Die neue Gaststätte „Arbeit“, die sie am Ende mit ihren alten Kollegen selbst eröffnet, ist genau das Projekt, das man jetzt braucht. Doch für die Investorin, die im richtigen Moment patent um die Ecke biegt, hat die Realität leider keine Entsprechung parat.