Men In Black

Überleben in der Tiefgarage: Peter Mussbach inszeniert Arnold Schönbergs Opernfragment „Moses und Aron“ in der Berliner Staatsoper. Eine Hoffnung auf ein Gelobtes Land gibt es hier nicht mehr

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Viel ist über die möglichen Gründe gerätselt (und geschrieben) worden, die Arnold Schönberg daran gehindert haben, seine Oper „Moses und Aron“ zu vollenden. Mehrere Textfassungen des dritten Akts liegen vor, doch keine einzige Note. Schönberg hat offenbar nicht einmal versucht, die musikalische Form wenigstens zu skizzieren, in der die biblische Überlieferung hätte zu Ende erzählt werden können. Jede Aufführung steht vor diesem Problem. Die Lösung, die Peter Mussbach jetzt in der Berliner Staatsoper dafür gefunden hat, überzeugt durch ihre Radikalität. An Schönberg lag es gewiss nicht, dass dieses Drama um den reinen Gedanken eines einzigen, allgegenwärtigen Gottes, der sein Volk auserwählt hat, um es zu befreien, mit einem Sieg eben dieses abstrakten Prinzips enden konnte. Es ist schon gescheitert, wenn sich in der Staatsoper der Vorhang nach Schönbergs magischen, mit Singstimmen instrumentierten Einleitungsakkorden öffnet. Die Welt ist längst untergegangen, in der ein Moses mit seinem Bruder Aron um die reine Lehre streiten könnte.

Ist das Gott, der da mit Moses redet, vielstimmig im Sprechchor, ingeniös unterlegt mit Singstimmen und Instrumenten? So hat es Schönberg komponiert, und zu hören ist von den ersten Takten an, wie sorgfältig der Chorleiter Eberhard Friedrich gearbeitet hat. Zu Recht werden er und seine Sänger am Ende des Abends den lautesten Applaus von allen ernten. Schönbergs programmatische Verflechtung von Text, Gesang und Sprache stellt außergewöhnliche Ansprüche. Sie sind glänzend bewältigt worden, selbst im massivsten Forte bleibt alles verständlich, der gesprochene Text wie der Gesang. Nur zu sehen ist nichts, keine Wüste, kein Dornbusch – auch kein Moses.

Das liegt nicht daran, dass Gott unsichtbar ist, sondern daran, dass die Bühne dunkel bleibt. Wir befinden uns in einer verbunkerten Tiefgarage, es könnte auch der Keller irgendeines Geschäftshauses sein, so genau ist das nicht auszumachen, denn in dem trüben, grauen Licht, das im Hintergrund aus einer mutmaßlich gepanzerten Glasscheibe hereindringt, ist die Architektur dieses Schauplatzes am Anfang nur zu erahnen. Später, wenn es dann doch etwas heller wird, ist eine schräg nach hinten aufsteigende Betonrampe zu sehen, massive Stahlsäulen tragen links und rechts ebenso massive Balkone aus Sichtbeton – eine Kulisse, wie sie nicht besser geeignet sein könnte zur Verkündung ewiger Wahrheiten und zu spektakulären Auftritten ihrer Propheten.

Aber die gibt es nicht mehr. Es gibt auch kein Volk mehr, das sich verführen oder belehren ließe, vielleicht gibt es nicht einmal mehr Menschen, denn es gibt auch keine Frauen und Männer mehr. Zu sehen sind Figuren im schwarzen Anzug und mit Sonnenbrille. Sie haben kein Gesicht und kein Geschlecht. Auf der Straße möchte man ihnen nicht begegnen. Es sind Men In Black, Agenten einer keineswegs göttlichen, aber ebenfalls unsichtbaren, allgegenwärtigen Organisation. Vielleicht sieht die Welt so aus, wenn der Schutz vor dem totalen Terror ebenfalls total geworden ist. Die Agenten schlagen sich dann auch mal gegenseitig tot, weil als Einzigen übrig geblieben sind, sie glauben an diesen oder jenen Gott, was sollen sie sonst tun?

Nun, sie spielen Oper. Schönberg, radikal moderne Oper, eine Musik, in der (angeblich) jeder Ton berechenbar und nur mit äußerster Disziplin aufführbar ist. Zweifellos hat Mussbach diese Unterwelt aus Science-Fiction-Filmen geborgt. Sie ist bedrückend, aber faszinierend, weil sie Schönbergs Werk über die Absichten des Komponisten hinaus weiterdenkt. Biografisch lässt sich gut nachvollziehen, was den Gottsucher Schönberg, der einst Protestant aus Überzeugung geworden war und erst unter dem Eindruck der Nazis zu einem nun auch politischen Judentum zurückfand, dazu brachte, die Urerzählung des mosaischen Glaubens als Oper zu komponieren. Der Kampf zwischen Moses und Aron formuliert die politische Hoffnung auf das Gelobte Land und zugleich eine Frage an sein eigenes Werk, die Frage nämlich, worin die Wahrheit eines musikalischen Gedankens bestehe. „Erwartet nicht die Form vor dem Gedanken“, singt Aron an einer Schlüsselstelle, „aber gleichzeitig wird sie da sein.“

Beides ist ferne Vergangenheit auf Mussbachs Bühne. Niemand hat hier jemals ein Gelobtes Land erreicht, die Anzüge mit Sonnenbrille wissen nicht, was das sein könnte, nicht einmal die Orgie mit nackten Jungfrauen, die ihnen Schönberg angedichtet hat, können sie feiern. Zum Rondo des Tanzes ums Goldene Kalb krabbeln sie wie Ameisen um die Statue eines Riesen im goldenen Anzug herum. Jemand hat ihm den Kopf abgeschlagen – er trägt Sonnenbrille.

Zwischen der alten Hoffnung und diesem Ende liegen Erfahrungen absoluter Unmenschlichkeit, die sich nicht einmal Schönberg vorstellen konnte. Sie dementieren das politische Programm in jedem Fall – und verbieten jeden noch so nahe liegenden Gedanken an das heutige Israel – aber auch das ästhetische Programm der Moderne zerbricht. Noch einmal ist zwar zu hören, mit welcher Vollendung Schönberg die Forderung nach Einheit von Form und Inhalt erfüllt hat. Doch Daniel Barenboim dirigiert das Werk eher impulsiv als analytisch, darunter leidet gelegentlich die Präzision, aber diese bis ins Letzte durchorganisierte Partitur gewinnt damit eine überraschende Spontaneität und musikantische Lebendigkeit, die sie sogar in dieser Hochsicherheitsgarage überleben lässt. Sie überlebt, weil selbst Men In Black fast wie Menschen aussehen, wenn sie singen wie Thomas Moser als Aron oder so grandios deklamieren wie Willard White als schwarzer Moses. Schade nur, dass Moser gelegentlich ins typische Tenornäseln gerät, wenn er Schönbergs Melodiebögen freien Raum geben sollte. Sie sind so unglaublich schön, dass solche Mängel leider stören – auch wenn Schönberg darüber anders denken mochte.