Kigali, damals im April

Ein ruandischer Tutsi erzählt, wie er vor zehn Jahren die Massaker in der Hauptstadt knapp überlebt hat

So war es immer: Die Behörden gaben den Befehl zum Töten. Und sie konnten auch jederzeit Einhalt gebieten

VON JEAN-BAPTISTE KAYIGAMBA

Ich habe meine Eltern zum letzten Mal Ende 1993 gesehen. Als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, sagte sie: „Wenn du wiederkommst, werden die Hutu uns alle umgebracht haben.“ Sie sollte recht behalten. Das Jahr 1994 überlebten von meiner Familie außer mir nur zwei Schwestern und eine kleine Nichte. Sie erhielt einen Machetenhieb und fiel hin. Die Mörder ließen sie liegen. Später kletterte sie aus dem Leichenberg heraus und lebte weiter. Das ist alles.

Meine Mutter wusste, wovon sie sprach. Als ich drei Monate alt war, im Jahr 1963, wurden in meinem Heimatdistrikt Gikongoro schon einmal Tutsi massakriert. Eine Gruppe Hutu-Bauern kam in unser Haus und suchte meinen Vater. „Wir suchen nur Männer“, versuchten sie meine Mutter zu beruhigen. Mich, auf dem Rücken meiner Mutter, bemerkten sie nicht. Sie zerstörten bloß das Haus. Später musste meine Mutter zum Gemeindebüro, wo Tutsi zum Ertränken im nahen Fluss gesammelt wurden. Doch bevor das geschah, befahl die Regierung, das Töten einzustellen.

Das war immer das Muster: Die Behörden gaben den Befehl zum Töten, und sie konnten jederzeit Einhalt gebieten. Ich wuchs auf mit Kindern, deren Eltern Tutsi getötet hatten. Wir konnten uns aber lange Zeit nicht vorstellen, dass die Massaker eines Tages wieder beginnen würden. Und dass diesmal niemand den Befehl zum Aufhören geben würde.

Anfang 1994 lebte ich in Kigali. Damals nahm die Gewalt in der Hauptstadt spürbar zu. Medien verbreiteten Hass auf die Tutsi. In Kigali gab es 8.000 gut bewaffnete, von Franzosen ausgebildete Milizionäre der Interahamwe-Miliz. Man sah häufig, wie sie in Bussen aus der Stadt hinausfuhren und dabei sangen, „Wir werden sie ausrotten“ – also die Tutsi. Nachts hörte man Granatenexplosionen, und in Vierteln, wo die Milizionäre wohnten, wurden Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Hunderte von Tutsi waren auf der Flucht. Ab dem Einbruch der Dunkelheit blieben die meisten Menschen zu Hause, aus Angst.

Am Morgen des 7. April, nach dem Abschuss des Flugzeuges mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana am Abend zuvor, stürmten fünf Präsidialgardisten unser Grundstück in Nyarugenge. Ich zwängte mich mit meinen Freunden durch den Zaun auf das benachbarte Gelände des Zentrums zum Studium afrikanischer Sprachen (Cela), das den europäischen katholischen Missionaren der Weißen Väter gehört.

Bis zum Spätnachmittag trafen 400 verängstigte Tutsi und ein paar Hutu auf dem Cela-Gelände ein. In den nächsten Tagen wurden es immer mehr. Sie erzählten, wie ganze Familien abgeschlachtet worden waren. Sie bestätigten die Berichte der Weißen Väter, denen es Spaß zu machen schien, uns jeden Tag über die neuesten Morde zu briefen. Nach einigen Tagen kamen französische Fallschirmjäger, um die Weißen Väter zu evakuieren. Sie hätten bleiben können – sie waren nicht Ziel der Milizen. Aber nun gingen sie einfach und ließen die Schlüssel zurück.

Wir zählten die Tage, hielten Wache und rechneten täglich mit einem Angriff. Das Internationale Rote Kreuz schickte uns 22 Säcke Bohnen. Die meisten Frauen und Kinder schickten wir auf das nahe Kirchengelände Sainte Famille. Der Angriff kam am 22. April gegen 10 Uhr morgens. Soldaten, Gendarmen, Milizionäre und Nachbarn waren beteiligt, manche mit Gewehren und Granaten, andere mit Macheten. Unter ihren Anführern befanden sich Kigalis Bürgermeister Tharcisse Renzaho sowie der katholische Priester Wenceslas Munyeshyaka. Mit einer Fliegerweste bekleidet und mit der Pistole in der Hand stand er einfach da und sah zu, wie die Milizen uns mit den Namen auf ihren Todeslisten abglichen. Zu uns sagte er: „Ich habe es euch doch gesagt!“ Den Killern schlug er vor: „Nehmt die Männer mit, die Frauen und Kinder“ – einige waren noch da – „könnt ihr mir geben.“ Später wurde bekannt, dass er Frauen geholfen hat, wenn sie ihm sexuell zu Diensten waren. Er lebt heute in Frankreich.

Die Killer nahmen rund 30 Männer mit. Sie sollten verhört werden. Eine Stunde später hörten wir einzelne Schüsse: die Hinrichtungen. Nur zwei entkamen. Einer hatte eine schöne Armbanduhr, die ihm ein Milizionär abnahm und ihn dafür gehen ließ. Einer rannte einfach weg. Die anderen landeten in einem Massengrab.

Ich und einige andere waren zurückgeblieben. Wir legten uns unter die Bäume und schliefen, wir waren so müde. Gegen Abend kamen die Milizen zurück. Sie taten, als kennten sie uns nicht, und sagten: „Kommt doch mit zu den Straßensperren, wir brauchen Leute.“ Wir gingen nicht mit. Einer der Milizionäre kam auf mich zu, stieß seinen Zeigefinger auf meine Brust und rief: „Ich kenne dich nicht!“ Ich war sicher: Jetzt bringt er mich um. Aber nichts geschah.

Als sie weg waren, verließen wir das Cela und gingen nach nebenan zu unserem früheren Grundstück. Dort verbrachten wir die Nacht. Am nächsten Morgen kam ein Kurier für mich. Eine Freundin, heute meine Frau, hatte ihn aus Sainte Famille losgeschickt. Also ging ich mit ihm und einem weiteren Freund einfach hinaus.

Auf der Straße musste man sich verhalten wie ein Milizionär: einen Stock in der Hand halten, schnell und gezielt gehen. Leute, die versuchten, sich zu verstecken, wurden sofort angehalten und getötet. Also gingen wir los. Ein Wagen der Präsidialgarde fuhr an uns vorbei – und hielt nach wenigen Metern an. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein. Es schien, als seien wir aufgeflogen. Wir verdrückten uns ganz schnell.

So kamen wir nach Sainte Famille. Die Kirche, auf einem großen Gelände mitten in der Stadt gelegen, war voller Menschen. In der Kirche lebten 200, auf dem ganzen Gelände mehrere tausend Menschen. Es gab nie genug Nahrung oder Wasser. Denn nur Hutu durften sich trauen, in Kigali einkaufen zu gehen. Die Straßen waren voller Straßensperren mit Milizionären, die oft betrunken waren oder Drogen genommen hatten.

Hier wussten wir nicht, wem wir trauen konnten. Die Tutsi hatten Angst, Hutu auf dem Gelände könnten sie verraten. Ich gab mir einen anderen Namen, um unerkannt zu bleiben. Ich blieb etwa eine Woche dort. Am 1. Mai kamen Milizionäre. Sie lasen von Listen Namen ab. Wenn jemand antwortete „Hier bin ich“, wurde er mitgenommen und getötet.

Eine meiner Schwestern hatte es ins Hotel Mille Collines geschafft, das größte Hotel der Stadt. Sie fand heraus, dass ich in Sainte Famille lebte, und mit Hilfe einiger Gendarmen am Hotel, die sie persönlich kannte, holte sie mich heraus. Das Hotel Mille Collines war ein privilegierter Fluchtort. Es gab sogar Fernsehen. Wasser gab es allerdings nur im Swimmingpool.

Aus dem Hotel konnten Geschäftsleute und Intellektuelle in Sicherheit hinter die Linien der RPF-Rebellen gebracht werden – wenn sie genug zahlten. Die Leute rechneten auch mit einer Evakuierung durch die UNO, denn es gab einen Deal, Menschen aus dem Regierungsgebiet gegen Familien von Regierungssoldaten im RPF-Gebiet auszutauschen. UN-Blauhelme brachten die Leute über die Frontlinie.

So wurde auch ich Mitte Mai in das RPF-Gebiet evakuiert. Das war allerdings reiner Zufall. Als der UN-Konvoi unter Leitung des ghanaischen UN-Generals Henry Anyidoho zum Hotel kam, war ich sicher, dass man mich zurücklassen würde. Aber ich kannte den General von früher. Als wir uns alle um den UN-Konvoi drängten und die UN-Soldaten versuchten, die Leute abzudrängen, winkte ich ihm zu und rief: „Ich werde sterben, wenn ich hier bleiben muss!“ Der General erkannte mich und befahl seinen Soldaten, mich durchzulassen. So kam ich in Sicherheit.

Die ganze Zeit über hofften wir immer, irgendwann würde die internationale Gemeinschaft uns zu Hilfe kommen. Aber es geschah nichts. Es war die RPF, die den Völkermord nach drei Monaten Barbarei stoppte.

In den Monaten vor dem 7. April hatte ich als Aktivist einer Menschenrechtsorganisation und als Korrespondent der Nachrichtenagentur IPS (Inter Presse Service) die Vorbereitungen zum Völkermord mitbekommen und auch darüber berichtet – obwohl das riskant war, denn wir mussten immer eine Kopie unserer Berichte an die Staatssicherheit schicken. Später habe ich erfahren, dass die Angestellten des Postamts in Kigali, von wo aus ich meine Berichte gefaxt habe, mich immer den „Inyenzi-Reporter“ nannten. Inyenzi war das Schimpfwort der Hutu-Extremisten für Tutsi und heißt „Kakerlaken“.

Ich erfuhr später auch, dass die IPS-Redakteure meine Berichte komplett weggeschmissen haben, weil sie den Inhalt nicht glaubten. Bei einer internationalen Konferenz in Senegal im Mai 1994 erinnerten sie sich an ihren Korrespondenten in Kigali und hielten eine Schweigeminute ab – im Gedenken an ihren vermutlich getöteten Kollegen.