Jeder Mensch zählt

Kein Mensch auf der Welt ist mehr wert als ein anderer. In Ruanda wurde das vergessen

VON ROMEO DALLAIRE

Der Genozid in Ruanda war so brutal, dass wir von dieser Zeit mit brutaler Offenheit sprechen müssen. Die Idee massenhafter Tötung, die wir damals in Ruanda sahen, war der Menschheit vertraut. In Ruanda rechneten wir mit Massakern, falls sich die Situation verschlechtern würde. Am 23. Oktober 1993 hatte es einen Putsch in Burundi gegeben, wir hatten 300.000 burundische Flüchtlinge in Ruanda, und zehntausende Leichen aus Burundi trieben in den Flüssen an der Grenze. Also wussten wir, was für Massaker möglich sind.

Aber Ruander zählten für die Welt damals einfach nicht. Die internationale Gemeinschaft sortierte ihre Prioritäten nach nationalen Interessen. Sie begriff nicht, dass die Vernichtung von Afrikanern in Zentralafrika Auswirkungen auf ihre Länder und Gesellschaften haben würde. Als die UNO in vollem Bewusstsein der Lage in Ruanda beschloss, ihre wenigen Truppen abzuziehen, die ohnehin durch das Fehlen eines Mandats und den Rückzugswillen der Entsendeländer geschwächt waren, waren wir gleichzeitig dabei, zehntausende von Truppen nach Jugoslawien zu schicken.

In sechs Jahren Krieg in Jugoslawien wurden weniger Menschen getötet und vertrieben als in Ruanda in 100 Tagen. Aber wir konnten die internationale Gemeinschaft nicht davon überzeugen, Ruanda als gleichwertig oder als interessant zu sehen. Stattdessen wurde beschlossen, die Ruander ihrem Schicksal zu überlassen.

Wie kommt es zu einer solchen Unterschiedlichkeit der Analyse? Der Grund liegt in der Unfähigkeit, Menschen als Menschen zu sehen. Die gesamte Menschheit sind Menschen, und niemand ist mehr Mensch als ein anderer. Doch bei den Entscheidungsprozessen zu Ruanda ergab sich, dass Ruanda handlungsfähigen Ländern nicht wert war, Opfer zu riskieren.

Im Oktober 1993 verloren die USA in Somalias Hauptstadt Mogadischu 18 gut ausgebildete Soldaten, die darauf trainiert waren, mit dem Tod zu rechnen. 1,6 Millionen Männer in Uniform zogen daraufhin den Schwanz ein, und das US-Kontingent verließ die hunderttausenden Somalis, zu deren Unterstützung sie da waren. Wie tief war also die Verpflichtung, diese Mission auszuüben? Wie tief ist die Verpflichtung heute, solche Missionen auszuüben? Wie tief war die Verpflichtung gegenüber Ruanda?

Die internationale Gemeinschaft hat den fundamentalen Fehler, dass sie nicht in der Lage ist, Eigeninteresse zu überwinden und jeden Menschen als Menschen zu sehen, als genau gleich. In den Augen des dreijährigen Jungen, den wir während des Genozids in Ruanda dreckig und verwahrlost und hungrig aufsammelten, als er zwischen Leichen lebte, sah ich meinen eigenen dreijährigen Sohn. Ich sah nicht einen Ruander und einen Kanadier, sondern zwei Menschenkinder. Das ist es, worum es bei Konfliktlösung geht.

Wenn wir es nicht schaffen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen, wenn wir die in Blut und Elend lebenden 80 Prozent der Menschheit als Restgröße ansehen – dann können die 20 Prozent, die sich auf dem Weg zum Mars befinden, niemals sagen, dass die Menschheit voranschreitet. Die gesamte Menschheit wird Würde und Hoffnung verlieren. Menschlichen Fortschritt gibt es erst dann, wenn die 80 Prozent nicht länger eine Restgröße für die 20 Prozent darstellen. In Ruanda wurde die Menschheit vergessen.

Wenn ich die ganzen Studien und Berichte über Ruanda aus den letzten zehn Jahren ansehe, beschleicht mich immer noch ein schreckliches Gefühl: Sollte irgendeine Organisation beschließen, im Nordwesten Ruandas die 320 Berggorillas umzubringen, wären das Interesse und die Reaktion der entwickelten Welt heute immer noch größer, als wenn jemand beginnen würde, in diesem Land tausende von Menschen zu töten.

Eines Tages werden wir aufhören, uns wegen unserer Unterschiede zu bekämpfen. Es kann Jahrhunderte dauern. Aber eines Tages werden wir uns nicht mehr wegen unserer Unterschiede gegenseitig zerstören. Mehr und mehr Menschen engagieren sich für Menschenrechte, und irgendwann werden wir das Niveau von Menschlichkeit erreichen, das zur Anerkennung unser aller nötig ist und zur Verhinderung eines erneuten Genozids.

Dennoch werden Millionen Unschuldige sterben, weil wir es noch immer nicht schaffen, die Menschheit als Ganzes zu begreifen. Viel Arbeit ist nötig, um eine Bewegung aufzubauen, die uns alle auf den Weg der Menschlichkeit führt und nicht auf den Weg des Eigeninteresses, in einer Welt, in der 80 Prozent der Menschheit noch in Blut und Elend lebt.