Französische Revolution bei Eurotunnel

Die geprellten französischen Kleinanleger stürzen das britische Management des „Eurotunnels“. Die angeblich sicheren Aktien sind entwertet, der Tunnel hat 9 Milliarden Euro Schulden. Neue Chefs wollen öffentliche Gelder. Paris und London lehnen ab

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Schwein …“, hallt es von links, „Verbrecher“, kommt es von rechts zurück. Im Kongresszentrum von Villepintes im Norden von Paris herrscht Fußballatmosphäre. Kleinaktionäre stehen auf Stühlen, machen Lärm mit Trillerpfeifen und Nebelhörnern. Und beschimpfen die Spitzenmanager der Eurotunnel-Gesellschaft, von denen sie sich über den Tisch gezogen fühlen. Nach acht Stunden tumultartiger Vollversammlung wählen die Kleinaktionäre neue Männer in die Direktion der hoch verschuldeten Gesellschaft. Die alten Spitzenmänner – ausnahmslos Briten – werden von dem knapp 2.000-köpfigen, mehrheitlich französischen Publikum zum Abschied lustvoll ausgebuht.

„Aufstand der Kleinaktionäre“ ist tags drauf in manchen französischen Zeitungen zu lesen. Die britischen Blätter wollen sogar eine „französische Revolution“ beobachtet haben. Und Wirtschaftszeitungen schreiben von einem „historischen Ereignis“ sowie dem Beginn einer „Aktionärsdemokratie“. Tatsächlich sind Führungswechsel bei wichtigen Aktiengesellschaften in Europa bislang stets von großen Anlegern betrieben worden. Bei der Eurotunnel-Gesellschaft hingegen waren es viele Kleine, die den Direktionswechsel betrieben. Doch das nötige Gewicht für den Umsturz haben sie erst durch einige anonym gebliebene Großanleger bekommen, die mit ihnen gestimmt haben. Auf der Versammlung am Mittwochabend in Villepinte munkeln die Kleinen, dass unter anderem die Deutsche Bank unter ihnen sei.

Die „Oppositionellen“ haben ihr Stimmrecht an eine der schrillsten Figuren der französischen Finanzszene delegiert: Nicolas Miguet. Der wegen betrügerischer Finanzgeschäfte vorbestrafte 43-jährige Journalist kommt aus dem rechtsextremen Lager, gibt Börsenblätter heraus und will 2007 Präsident werden. Für die Vollversammlung hat er Stimmrechte über 17,7 Prozent des Aktienkapitals bekommen. Er ist der starke Mann.

„Mit Nicolas wird der Aktionär respektiert“, steht auf Stickern, die bei der Vollversammlung auf vielen Revers kleben. Von den 900.000 Aktionären der Gesellschaft sind 90 Prozent Franzosen. Die meisten sind Männer, Rentner und arbeiteten einst als Taxifahrer, Kneipiers und als andere Gewerbetreibende. Sie haben an ein Jahrhundertgeschäft geglaubt und an eine „risikofreie Absicherung der Zukunft der Enkel“. So stand es 1987 in den Anzeigen. Ausgabekurs der Eurotunnel-Aktien war 35 Franc – 5,33 Euro. Heute sind sie noch 0,50 bis 1 Euro wert. Und die Tunnelgesellschaft ist mit 9 Milliarden Euro verschuldet.

Nichts an den Zahlen stimmte: Statt 8 Millarden Euro verschlang der Bau des Tunnels 16 Milliarden Euro. Und statt 16 Millionen Menschen im Jahr transportiert der „Eurostar“ nur 7 Millionen. Bestand hat hingegen der Vertrag von Canterbury. Er fixierte 1987 die Grundregel von Margaret Thatcher: „No public penny.“ Die Ankoppelung der britischen Insel an den Kontinent wurde ausschließlich mit privaten Geldern gebaut.

Die 9 Milliarden Schulden gehören heute den Banken. Eine knappe Hälfte haben sie bereits an Pensionsfonds weiterverkauft. In zwei Jahren muss der erste Schuldenteil zurückgezahlt werden. Dazu ist die Gesellschaft momentan nicht in der Lage. Dann geht die Konzession für den Tunnel an die Banken und die Pensionsfonds über. Der Zug würde weiterfahren. Aber die Kleinaktionäre hätten alles verloren.

Dieses bedrohliche Szenario hat jetzt den Machtwechsel herbeigeführt. Die aus Frankreich stammenden neuen Manager wollen verhindern, dass der Eurotunnel an die Banken und Hedge-Funds fällt. Einen Business-Plan haben sie noch nicht. Ihr Chef Jacques Maillot will „verhandeln“. Mit den Regierungen. Er hofft, dass sie zumindest einen Teil der Schulden übernehmen werden. Das Problem: London und Paris haben bereits abgelehnt. Auf beiden Seiten des Kanals wollen sie einen privaten Tunnel.