In Raserei gelesen

Welcher Einband ist der richtige? Um eine Ausgabe von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ ist Streit entbrannt – zwischen dem Frankfurter Stroemfeld Verlag einerseits und der FAZ sowie dem Verleger Klaus Wagenbach andererseits

VON JÜRGEN BERGER

Hätte er gewusst, in welchem Maße er die Gemüter erregt – er hätte trotzdem geschrieben. Er wäre also auch nicht an jener Geschichte des Gregor Samsa vorbeigekommen, der eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte und sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt sah. „Ein schöner Abend bei Max. Ich las mich an meiner Geschichte in Raserei. Wir haben es uns dann wohl sein lassen und viel gelacht“, schreibt Franz Kafka am 1. März 1913. Der schöne Abend war bei Max Brod und der Brief an Felice Bauer gerichtet. Dass Kafka sich in Rage gelesen hatte, hing wohl auch damit zusammen, dass er mit dem Ende seiner Geschichte zwar nicht glücklich, doch aber ganz froh war, sie endlich fertig gestellt zu haben. Heute, nicht ganz 90 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe von „Die Verwandlung“ im Jahr 1915 in der Reihe „Der Jüngste Tag“ des Kurt Wolff Verlags haben sich merkwürdigerweise wieder einige Zeitgenossen in Rage gelesen.

Stein des Anstoßes ist die kritische Kafka-Ausgabe im Frankfurter Stroemfeld Verlag. In der liegt nun auch einer der wirkmächtigsten Texte Kafkas vor: zum einen als Faksimile der Handschrift; zum anderen als Nachdruck der Erstausgabe. Als die Stroemfeld-Ausgabe der „Verwandlung“ erschien, wurde sie lobend besprochen. Am 7. Februar allerdings gab es plötzlich eine heftige Attacke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. An der eigentlichen editorischen Arbeit der Stroemfeld-Herausgeber Roland Reuss und Peter Staengle, dem Faksimile der Handschrift, wurde nichts bemängelt. Am Nachdruck der Erstausgabe dagegen umso mehr.

Autor des Artikels ist Hanns Zischler. Er spricht von einer „Mogelpackung“ und führt aus, die Vorlage für den Reprint sei „offenbar eine falsche“. Die Herausgeber Reuß und Staengle hätten nicht jene „bekanntere, grafisch sehr expressive Estausgabe“ zugrunde gelegt, auf deren gelb-bräunlichem Einband sich eine Zeichnung Ottomar Starkes befunden habe. „Als Nachdruck liegt ein beschnittenes und mit dem falschen Einband versehenes Exemplar vor. Es fehlt der kleine, sprechende Zensurstempel auf dem Innentitel (mit dem Umrissbild des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig).“ Zischler behauptet in dieser Passage tatsächlich, die Stroemfeld-Herausgeber hätten als Vorlage nicht die Erstauflage der „Verwandlung“ von 1915, sondern die Zweitauflage von 1918 verwendet. Würde das stimmen, hätte der Nachdruck so gar nicht erscheinen dürfen. Sieht man etwas genauer hin, fragt man sich allerdings, warum Zischlers Artikel in der FAZ erscheinen konnte.

Die Erstauflage mit dem „kleinen, sprechenden Zensurstempel“ ist in Wirklichkeit die zweite Auflage der „Verwandlung“. Zischler bezieht sich in seiner Argumentation, ohne dies zu bemerken, auf die grafische Aufmachung der „Verwandlung“ von 1918. Er sitzt selbst dem Irrtum auf, den er bei der Stroemfeld-Ausgabe moniert. Schon ein Blick in den Begleitband zur Faksimileausgabe des Stroemfeld Verlags hätte diesen Irrtum vermeiden helfen. Dort wird am Ende eines Aufsatzes zur Entstehungsgeschichte der Handschrift erklärt, warum der Zensurstempel erst in der Zweitauflage vorzufinden ist. Der Grund: Die Militärzensurbehörde führte ihn erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges ein. Er konnte also gar nicht die Erstauflage zieren.

Hanns Zischler hätte das wissen können. Der in der FAZ zuständige Literaturchef Hubert Spiegel hätte es wissen müssen. Immerhin gab er einen Artikel zum Abdruck frei, dessen Vorwürfe im Kern darauf hinauslaufen, der Stroemfeld-Nachdruck der „Verwandlung“ sei wertlos. Dass den Kritikern der Kritischen Kafka-Ausgabe selbst ein kapitaler Fehler unterlaufen war, hatte zur Folge, dass die FAZ eine Gegendarstellung abdrucken musste, in der der Stroemfeld Verlag am 19. Februar klarstellte, die verwendete Vorlage sei durchaus die richtige. Das von Zischler beschriebene Exemplar müsse man der zweiten „von Kafka nicht autorisierten Auflage vom Herbst 1918“ zuordnen.

Spricht man heute mit Hanns Zischler, räumt er seinen Missgriff ein. „Ich habe einen Fehler gemacht und angenommen, der Zensurstempel sei bereits in der ersten Auflage gewesen.“ Dann allerdings fügt er an, er finde die Reaktion des Stroemfeld Verlags „völlig unter Niveau“. Es sei doch keine Art, sofort juristische Schritte einzuleiten. Setzt man sich mit dem Stroemfeld-Verleger K. D. Wolff in Verbindung, hat man den Eindruck, der verstehe die Welt nicht mehr. „Es ist mir ein Rätsel, warum sich Menschen wie Hanns Zischler und ja auch Klaus Wagenbach jahrelang emphatisch mit Kafka beschäftigen, sich dann aber nicht über unsere Faksimilierung der Kafka-Handschriften freuen. Völlig unverständlich ist mir, warum uns geradezu Hass entgegenschlägt.“

Ob da nun tatsächlich Hass im Spiel ist, steht auf einem anderen Blatt. In der FAZ jedenfalls scheint man den Abdruck der Gegendarstellung als schmerzhafte Niederlage empfunden zu haben. Niederlagen haben Folgen und führten in diesem Fall dazu, dass am 21. Februar ein weiterer Artikel zur Kritischen Kafka-Ausgabe in der FAZ erschien. In diesem Artikel wirft der Berliner Verleger Klaus Wagenbach den Stroemfeld-Herausgebern vor, ihre Neuausgabe der „Verwandlung“ sei „ein absurder Wechselbalg“. Als Vorlage sei eine Erstauflage mit falschem Einband verwendet worden. Zwar ging es im Wagenbach-Artikel schon nicht mehr um eine vermeintlich falsche Auflage, sondern nur noch um einen falschen Einband. Aber immerhin. Die Erstauflage, so Wagenbach, sei 1915 nur mit einem ganz bestimmten Einband geliefert worden: „In roten (oder auch in Teilen graugrünen) Karton gebunden, mit fünf eingehängten unbeschnittenen Bögen zu je sechzehn Seiten.“ Der schlichte, schwarze Einband der Stroemfeld-Ausgabe müsse also auf jeden Fall falsch sein.

Den Herausgebern, argumentiert Wagenbach, hätte auffallen müssen, dass es sich bei ihrer Vorlage „um eine zwar bemühte, aber dem Materialmangel mitten im Weltkrieg zu verdankende Ausstattung handelt“. Erschwerend komme hinzu, dass die verwendete Vorlage von einem Antiquar zur Verfügung gestellt worden sei, der den im Laufe der Zeit ruinierten Einband restauriert habe. Wagenbach ist Kafka-Liebhaber, hat in seinem Verlag unter anderem „Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben“ veröffentlicht und sich im Klappentext zur ersten Auflage des Bandes scherzhaft als „dienstälteste Kafka-Witwe“ bezeichnet. Man darf annehmen, dass in seiner Privatbibliothek einer jener ersten Bände der „Verwandlung“ steht, für die man heute auf Auktionen 9.000 Euro bezahlt. Interessant an seiner Argumentation ist, dass er zwar verschiedene Einbände beschreibt und zugesteht, „Die Verwandlung“ sei zwischen 1915 und 1918 in unterschiedlichen Ausstattungsvarianten ausgeliefert worden, dann aber plötzlich nur noch von einem verbindlichen Einband ausgeht.

Wagenbachs Artikel hatte zur Folge, dass die FAZ sich zum zweiten Mal in einer misslichen Lage befand und am 25. März einen Artikel des Stroemfeld-Herausgebers Roland Reuss abdrucken musste. Da wird argumentiert, die Erstausgabe der „Verwandlung“ sei in mindestens drei Einband-Varianten ausgeliefert worden. Darunter befinde sich „eben auch diejenige, die unserem Nachdruck als Vorbild diente – nicht nur deshalb, weil sie die schlichteste war, sondern auch, weil sie für das Gesicht der Reihe ‚Der jüngste Tag‘ bestimmend werden sollte“. Eigentlich war da schon längst klar, dass es bei der ganzen Kontroverse lediglich um Einband-Varianten und darum geht, dass jeder Herausgeber sich in solch einem Fall für eine Variante entscheiden muss. Umso unverständlicher mutet an, dass die FAZ den Reuss-Artikel mit einem Kasten spickte, in dem behauptet wird, der Stroemfeld-Nachdruck genüge „nicht den Anforderungen, die an ein Faksimile gestellt werden müssen“. Ob es dafür tatsächlich einen Beleg gibt, ist bis heute ein Geheimnis der FAZ.