Troll dich, Selbsterkenntnis!

Nur keine Langeweile: Peter Zadek inszeniert Ibsens „Peer Gynt“ am Berliner Ensemble als wüsten Bilderbogen mit viel Geplänkel. Mehr als die Suche Peers nach sich selbst inszeniert der große alte Mann des Regietheaters die Sehnsucht, mal wieder ein bisschen mit dem Theater zaubern zu können

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Da kommen sie, da kommen sie. Schon während der Vorhang sich hebt, hört man ihre Schritte. Dann stehen Uwe Bohm und Angela Winkler atemlos an der Rampe, und das Erzählen hebt an. Ihre fadenscheinigen Kostüme sind alles, was man zu sehen bekommt von dem heruntergewirtschafteten Gut, dem Peer Gynt entfliehen will, von seiner Mutter beschworen, zu bleiben. Er ist ein großspuriger Sprücheklopfer, und sie ist seine begeisterte Zuhörerin. Im Erfinden die anderen mitzureißen, sie in Märchen einzuspinnen, die der Wirklichkeit, die Szene nach Szene in Katastrophen strandet, ausweichen, darin ist er großartig, dieser Peer Gynt.

Zu Illusionen zu verführen, die leicht wie durchscheinende Seide gewebt waren und doch ahnen ließen, aus welchen Mängeln der Realität sich die Sehnsucht nach solchem Verführtwerden nährte, war lange auch das Metier von Peter Zadek, der jetzt Ibsens „Peer Gynt“ am Berliner Ensemble inszeniert hat. Er scheint sich mit diesem Stoff zurückzusehnen in jene Zeit, als er mit Shakespeare im Koffer selbst noch zaubern konnte. Jetzt aber scheinen die Figuren, die er auf der Bühne in großen Gruppen hin und her schiebt, plötzlich nur noch wie aus Holz und Papier. Die Magie ist zerstoben und übrig bleibt ein Theaterhandwerk, das beinahe schmerzt in seinem Bemühen, nur keine Langeweile aufkommen zu lassen.

Wie kann ein gestandenes Ensemble nur so unbedarft wirken, so sehr nach einem zappelnden Haufen aussehen? Ihnen wird ständige Verwandlung abverlangt, ihr Spiel erst macht Peer Gynts Fantasien perfekt. Sie sind die Dorfgemeinschaft, die ihn hängen will, und die Trolle, die ihn zum König wollen. Sie sind die Sklavenhändler, mit denen er reich wird, und die Irren, die ihn krönen. Sie sind eine Bande Affen und Wellen im Sturm, der sein Schiff kentern lässt.

Sie hasten durch diesen wüsten Bilderbogen mit viel Geplänkel und anekdotischem Witz. Die Trolle zum Beispiel schrubben sich mit Zahnbürsten unentwegt ihre schönen langen Rattenschwänze, während sie mit Peer über die Herausgabe eines Auges verhandeln. Das Gespräch der Sklavenhändler wird von einem Floh angetrieben, der einen nach dem anderen überfällt. Das wird zum folkloristischen Gewusel, das zwar das Groteske der rätselhaften Textcollage von Henrik Ibsen illustriert, aber kaum hilft, die Bilder als Metaphern auf der Suche nach seinem Selbst zu verstehen.

Es fehlt die Konzentration, um dem Witz des Textes als einer literarische Fantasie auf die Spur zu kommen, die einen heftigen Kampf auch gegen ihre eigene Macht führt. Ibsen schrieb „Peer Gynt“ in Italien, 1867, und das Erlebnis der Bildungsreise, die plötzlich die Voraussetzungen der eigenen Existenz neu zur Disposition stellt, floss ebenso ein wie die Motive norwegischer Märchen. Für die bald einsetzende Wissenschaft der Psychoanalyse sind seine Szenen am leichtesten entschlüsselbar: etwa die von dem Wahnsinnigen, der sich für eine Schreibfeder hält und, um angespitzt zu werden, mit einem Messer die eigene Kehle aufschneidet und sein Blut auf das Papier schreibt. Die Suche nach Selbsterkenntnis ist da ein letztendlich bedrohlicher und zerstörerischer Akt ebenso wie die Kreativität des Autors.

Dieser Moment, Ende des vierten Aktes, ist auch in der Inszenierung von Peter Zadek, die überhaupt gegen Ende an Spannung gewinnt, einer der aufregendsten. Der fünfte Akt ist retrospektiv: Peer Gynt schält eine Zwiebel, in einer Imbissbude, und so wie er Schale nach Schale abzieht, sieht er auch sich selbst und benennt die Schichten seiner vergangenen Existenzen. Nur der Kern fehlt, und ob damit alles umsonst war, oder gerade das zu erkennen das eigentliche Ziel der Reise gewesen ist, bleibt als Rätsel offen bis zum Schluss und quält ihn. Uwe Bohm spielt dies Alter zwar mit gebeugtem Rücken, zitternden Knien und schleppenden Gang so theaterstandardmäßig, dass es knarzt, aber dennoch hört man ihm gerne zu. Denn endlich haben der Rhythmus der Inszenierung und die Reflexivität des Textes zu einem Tempo gefunden.

Vorne im Programmheft ist eine Doppelseite Fotografien: links ein Hochformat von Uwe Bohm, die Fäuste geballt und brüllend, ganz Körper, Emotion und Willen. Rechts drei kleine Fotos von Zadek, nur sein Kopf, im Licht einer Schreibtischlampe über das Papier gebeugt. Vielleicht ist es diese schlichte Aufteilung in Körper und Kopf, die so lähmend auf der Inszenierung lastet. Zu wenig Eigenleben hat das Stück bekommen, zu sehr saß ihm der Druck im Nacken, ständig lustig zu sein.