Der rastende Reporter

Franz X. Gernstl macht Fernsehen, das es sonst gar nicht mehr gibt. Er entschleunigt es, indem er den Menschen in der Landschaft einfach erzählen lässt („Gernstl in den Alpen“, Sa., 20.15 Uhr, BR)

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Gleich in den ersten Einstellungen geht es um die Wurst. Und um Ludwig Hatecke, den mit Würsten eine Leidenschaft verbindet. Er, der Metzger aus dem Unterengadin, sagt auf einmal einen Satz wie diesen: „Ich habe gelernt, dass es ein Leben gibt und dass es auch ein Sterben gibt.“ Doch, in „Gernstl in den Alpen“ geht es tatsächlich um die Wurst – um essenzielle Fragen der menschlichen Existenz. Nur dass Franz X. Gernstl nicht einmal explizit fragen muss, um seine Antworten einzusammeln. (X. steht für Xaver und soll als „Iks“ gesprochen werden, da legt Gernstl Wert drauf.)

Die Antworten findet der Dokumentarfilmer entlang dem Weg. In diesem Fall entlang der Kantonsstraße 27, die den ganz jungen Inn vom mondänen St. Moritz bis hinab zur österreichischen Grenze begleitet. Einmal durchs Engadin also. Jenes mit Mythen beladene Hochtal, in dem Nietzsche und Adorno so gerne dachten, Hermann Hesse flanierte und Gunter Sachs seinen Ferrari und manchmal auch Brigitte Bardot spazieren fuhr.

„Top of the World“ würde Hans-Peter Danuser, St. Moritzer Tourismuschef, das Engadin wohl nennen – wenn Franz X. Gernstl danach fragen würde. So aber erzählt Danuser, dass das bayrische Alphorn dreißig Zentimeter länger ist als das schweizerische Original zum Beispiel. „Unsere Alphörner sind nicht europakompatibel“, sagt er stolz, „unsere Alphörner sind Gegenstand bilateraler Verhandlungen.“ Wieder so ein Satz, den man nur selten findet, weil man ihn eigentlich nicht sucht.

Wer nicht sucht, der findet

Denn eigentlich sucht das Fernsehen im Engadin den Glamour von einst und den russischen Geldadel von heute. Die Cartier-Uhren, den Marmorfußboden im Hotel Palace. Zum Glück aber macht Franz X. Gernstl kein eigentliches Fernsehen. Genauer betrachtet macht er sogar immer uneigentlicheres Fernsehen. Denn: „Als ich vor zwanzig Jahren angefangen habe, mit einem Kameramann loszufahren und einfach zu schauen, was passiert, gab es dafür noch gute Sendeplätze im ersten Programm.“

Zwar sind Gernstls entschleunigte Reportagen schon seit einiger Zeit im Bayerischen Fernsehen angekommen. Die guten Sendeplätze aber sind geblieben. Weihnachten, Neujahr und jetzt eben der Ostersamstag – immer um 20.15 Uhr, immer im Dritten.

„Gernstl unterwegs“ heißt die mit dem Adolf-Grimme-Preis belohnte Sendereihe eigentlich. „Gernstl in den Alpen“ heißt sie nun schon in der fünften Folge. Eben weil der rote VW Bus seiner Produktionsfirma „megaherz“ in diesen Wochen über hohe Passstraßen klettert und durch tiefe Alpentäler schlendert. Eilig scheinen es das Auto und sein Lenker nie zu haben. In ihrem Navigationssystem scheint der Umweg vorprogrammiert.

Mit „megaherz“, so viel sei an dieser Stelle eingeschoben, produziert Gernstl auch die ebenfalls fernsehpreisgekrönte Kindersendung „Willi will’s wissen“. Und regelmäßig außergewöhnliche Kino- und Fernsehfilme wie Andreas Dresens „Herr Wichmann von der CDU“ oder „Wir haben vergessen zurückzukehren“ von Fatih Akin. Auch an Doris Dörries Erfolgsfilm „Nackt“ war die Produktionsfirma aus Unterföhring beteiligt.

Dort oben im Engadin aber, auf über 1.800 Höhenmetern, ist der Film- und Fernsehproduzent vor allem ein Ethnograf des Alltäglich-Abseitigen. Dort oben hantieren Gernstl und sein Kameramann HP Fischer kaum mit großen Budgets – sondern einzig mit einer Handkamera und einem neugierigen Blick in die Ritzen und Zwischenräume der alpinen Postkartenperspektiven. Dort finden sie Orte, die auch von der angeblich immer alltäglicheren Medienlandschaft ausgeblendet werden.

Und so wird Gernstls Besuch beim fast 80-jährigen Giuliano Pedretti zu einer wunderbaren Metapher für das Fernsehen von Franz X. Gernstl selbst. Pedretti, als Jugendlicher einmal samt seinem Elternhaus von einer Lawine verschüttet, hat sich das Finden von Erinnerungen zur Lebensaufgabe gemacht. In seinem Museum in Samedan sammelt er Briefe von und an Friedrich Nietzsche genauso wie die Fotografie eines waghalsigen Wilderers, an dessen Existenz sich nur mehr Pedretti selbst zu erinnern vermag. Nur von Bier und Zigaretten gelebt habe der.

Substanz ohne Eitelkeit

Es sei doch unsere Pflicht, die Dinge – und mit ihnen ihre Zeit – zu retten, konstatiert der alte Mann mit Blick auf sein überbordendes Archiv. Zumal damals „die Leute Substanz hatten“. Substanz haben indes auch Giuliano Pedretti und Gernstl. Eine Sendung, die jemanden wie Pedretti ausfindig macht und ihm ganz uneitel einfach nur zuhört, hat diese Substanz sowieso.

Dass die Verantwortlichen in München diese Substanz auch erkannt und anerkannt haben, kann ihnen kaum hoch genug angerechnet werden: „Gernstl in den Alpen“ läuft so ziemlich zur besten Sendezeit, die der Bayerische Rundfunk freiräumen konnte.