Ein Haus, ein Fähnchen

Neustrelitz an einem sonnigen Herbsttag. Ein Berliner besucht eine „Fidelio“-Inszenierung der dortigen Oper und fasst einen tollkühnen Plan: Er will alle achtzig deutschen Opernbühnen besuchen, vor allem die in der Provinz. Die Chronik einer schönen Manie

von RALPH BOLLMANN

September 1997. Es geschah an einem der letzten warmen Tage jenes Jahres. Still lagen die Straßen der kleinen Provinzstadt unter der gleißenden Sonne, kein Café belebte den riesigen Marktplatz, staubig lag der öde Schotterplatz, der den Standort des einstigen Schlosses markierte. Kurz nach Kriegsende war es ausgebrannt, die Reste wurden bald danach gesprengt, seither blieben der Kleinstadt in Mecklenburg keine Attraktionen außer der Natur.

Wirklich nicht? Das Wunder ereignete sich gleich hinter dem kleinen Schlosspark mit seinen Wasserspielen, griechischen Skulpturen und klassizistischen Tempelchen – dem scheinbar einzigen Relikt aus der Vergangenheit als Hauptstadt des einstigen Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz. Ganz plötzlich, hinter einem kleinen Wäldchen, erhob sich in strahlendem Gelb ein Gebäude, das an Größe jedes andere Bauwerk des Städtchens bei weitem übertraf.

An der Fassade warb ein Plakat für kaum Glaubliches. „Heute: Fidelio“ stand in großen Lettern über dem Säulenportal. Oper, die aufwändigste aller Künste, der Inbegriff von Luxus und Verschwendung, den sich schon die Hauptstadt Berlin kaum noch leisten will – und das hier, in Neustrelitz, einem Städtchen mit gerade 25.000 Einwohnern?

Ein paar Karten gab es noch für die Nachmittagsvorstellung an jenem heißen Nachmittag, beste Plätze im Parkett für damals gerade 25 Mark. Ein kurzes Zögern: Sollte ich den letzten warmen Sonntag ausgerechnet im Dunkel eines Opernhauses zubringen? Doch kaum hob sich der Vorhang, war jeder Zweifel verflogen. Nicht die erwartete Provinzaufführung wurde gezeigt, nicht das biedere Verlies, in das selbst viele Großstadtbühnen Beethovens Freiheitsoper zwängen. Nein, das Gefängnis, von dem die Handlung spricht, es präsentierte sich hier als Alltag: Wände aus imitiertem Holz nach DDR-Machart, und beim Schlusschor ging das Freiheitspathos in Bierbüchsen und Vollrausch unter. Eine Inszenierung, die damals keines der Berliner Opernhäuser gewagt hätte.

An diesem Tag war es passiert. Die Opernprovinz hatte mich gefangen genommen. Ich fasste einen Entschluss, der mein Leben grundlegend verändern sollte: Alle deutschen Opernhäuser wollte ich im Laufe der folgenden Jahre besuchen, rund achtzig an der Zahl. Ich kaufte mir ein sechsbändiges Opernlexikon und abonnierte die einschlägige Fachpresse. Ich ordnete die Bühnen nach Bundesländern, nach der Größe der Stadt, nach der Anzahl der Sitzplätze, nach den Ausmaßen des Ensembles. Ich schied die früheren Hoftheater von den bürgerlichen Stadttheatern, sortierte nach alten und neuen Bundesländern, listete auf einem Zettel die Gründungsjahre auf.

Aber wo beginnen? Sollte ich versuchen, so viele Bundesländer abzuhaken wie nur möglich? Also mit Hamburg und dem Saarland anfangen (jeweils ein Opernhaus), dann nach Bremen und Bremerhaven fahren (zwei Opernhäuser)? Oder lieber in Thüringen starten, wo sich die Bühnen am dichtesten drängen? Oder doch lieber erst von Berlin aus nach Brandenburg ausschwärmen?

Anfang Mai 1998. Ich entscheide mich für das Prinzip „erst klein, dann groß“. Der Gegensatz von kleiner Stadt und großer Oper hat meine Leidenschaft entzündet, und nirgends ist diese Diskrepanz größer als in Meiningen. Mit 23.000 Einwohnern ist es das kleinste Städtchen auf meiner Liste, es hat eines der größten und prächtigsten Theatergebäude und obendrein eine lange Tradition.

Am Wochenende, an dem ich fahren kann, läuft Puccinis „Tosca“. Fünf Stunden dauert die Fahrt von Berlin bis hinter den Thüringer Wald. Auf einem Dorf kurz vor Meiningen nehmen wir uns ein Zimmer, und die Wirtin ist ganz euphorisch, als sie von meinen Plänen erfährt. Ja, das Meininger Theater sei hoch berühmt. Schon immer wollte sie mal hingehen, nur leider habe es sich nie ergeben.

Statt ihrer tue ich es, und vor dem Theater stehen schon die Busse aus dem benachbarten Hessen und Bayern. Seit den Zeiten des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen, der mit seiner Truppe durch ganz Europa tourte, hat das Haus einen legendären Ruf. Dabei wird freilich gern vergessen, dass der Theaterherzog die Opernsparte abschaffte, um mit Schauspiel und Konzert zu triumphieren.

Als wir an der Kasse unsere Karten abholen, treffen wir auf einen Kritiker des Fachblatts Opernwelt. Er wird in der nächsten Ausgabe schreiben, dass es mit einer so großen Oper in einem so kleinen Haus nur schief gehen könne. Die musikalischen und darstellerischen Leistungen könnten „die Aufführung kaum rechtfertigen“. In Meiningen stört das niemanden. Das Publikum im ausverkauften Haus nimmt die Vorstellung geradezu euphorisch auf, am Schluss gibt es minutenlangen, rhythmische Applaus wie auf dem SED-Parteitag. Dabei geht es im Stück um die päpstliche Geheimpolizei, und der Regisseur hatte schön herausgearbeitet, dass in einer Diktatur auch die Arglosen nicht unschuldig bleiben. Hat das jemand verstanden?

Ende Mai 1998. Auf meiner Liste stehen schon die nächsten Ziele: Quedlinburg, 24.000 Einwohner. Annaberg-Buchholz, auch 24.000 Einwohner. Rudolstadt, 26.000 Einwohner. Radebeul, 32.000 Einwohner.

Aber so einfach ist es nicht, wie sich alsbald herausstellt. Ich habe keine Wahl. Die meisten der kleinen Theater spielen nur am Wochenende, und die Mehrspartenhäuser geben auch Schauspiel oder Musical, Konzert oder Ballett. Opernvorstellungen gibt es in den meisten Kleinstädten nur an zwei bis drei Abenden pro Monat. Oft genug sind es die immer gleichen Stücke. Will ich nicht ständig Mozarts „Zauberflöte“ oder Verdis „Traviata“ sehen, muss ich meine Pläne nach dem Diktat des Spielplans richten.

Als besonders schwierig erweist sich überdies das Unterfangen, möglichst viele Termine zeit- und kostensparend zu kombinieren. Nur im Glücksfall gelingt ein Reiseplan wie dieser: Am Freitag „Zar und Zimmermann“ im erzgebirgischen Annaberg, am Samstag die hoch gelobte „Freischütz“-Aufführung in Chemnitz, am Sonntagnachmittag Bellinis „Nachtwandlerin“ in Leipzig. Seit ich das Projekt Provinzoper betreibe, weiß ich die seniorenfreundlichen Nachmittagstermine zu schätzen. So brauche ich kein teures Hotelzimmer.

Juni 1998. Nirgends wird so langfristig geplant wie in der Oper. An den großen Häusern stehen die Besetzungslisten drei Jahre im Voraus fest. Aber nicht alles lässt sich planen. Bisweilen gibt es Notfälle, die schnelles Eingreifen erfordern: Das muss ich schon im ersten Sommer meines Provinzoperprojekts erfahren. Das Land Brandenburg, kulturell durch den Berliner Sog weitgehend entleert, schließt sein vorletztes Opernhaus in Frankfurt an der Oder. Schon am 6. Juni gibt die Musiksparte des Kleist-Theaters ihre letzte Vorstellung, „Rigoletto“, zum Abschluss sogar auf Italienisch.

Da heißt es, schnell zu reagieren. Selbst in schlecht besuchten Opernhäusern wird es zum Abschluss noch mal voll. Wir bekommen gerade eben die allerletzten Karten. Wenige Tage später sitzen wir schon im Auto, lassen grüne Wiesen an uns vorüberziehen, baden unterwegs im Scharmützelsee. In Frankfurt dauert es eine Weile, bis wir das Theater finden. Auch Passanten können uns nicht weiterhelfen. Seit das alte Haus dem Krieg zum Opfer fiel, spielt die Frankfurter Oper in einem Behelfsbau weit außerhalb des Zentrums. Es ist eine Art Schulaula aus Backstein, die einst die Nazis als „Musikheim“ erbauten.

Die Aufführung ist gut, musikalisch tadellos, die Regie vermeidet jeden Kitsch. Sie findet starke Bilder und meistert auch Szenen, mit denen sich „Rigoletto“-Aufführungen stets schwer tun. Statt in einem düsteren Sack bekommt der Titelheld seine tote Tochter Gilda im gläsernen Sarg präsentiert. Das Publikum jubelt ausdauernd, dann hält der Intendant die Grabesrede. Zunächst sind alle sehr betroffen. Dann geht es zu wie auf jeder Beerdigung. Draußen bei Bier und Würstchen bessert sich die Stimmung an diesem lauen Sommerabend schnell. Die Sänger sind es ohnehin gewöhnt, dass sie jede Spielzeit weiterziehen müssen.

Sommer 2001. Die stolzen und selbstbewussten unter den kleinen Opernhäusern habe ich jetzt fast alle besucht. Abgehakt sind die Theater, wo Provinz nicht Provinz bedeutet und an jedem Abend ein kleines Wunder geschehen kann. Es bleiben die traurigen Orte, wo der Glaube an Wunder verloren gegangen ist. Wo sich Künstler und Publikum längst aufgegeben haben, wo das Theater in einem Behelfsbau am Stadtrand spielt, wo der aufwändige Opernabend in der Lokalzeitung kleiner angekündigt wird als der schnöde Seniorenkreis.

Das Mitteldeutsche Landestheater Wittenberg, das wenig später schloss, war damals so ein Ort. Die Karten für den Abend mit zwei Puccini-Opern sind bestellt, der Mietwagen für die nächtliche Rückfahrt ist reserviert. Auch durch das geschmacklose Foyer im Stil eines billigen Provinzvarietés lasse ich mir die Laune nicht verderben, steuere frohgemut auf die Theaterkasse zu. Ich halte das Ticket schon in der Hand, da merke ich plötzlich auf: Statt „Puccini“ steht dort „Operettenabend“. Eine kurzfristige Änderung, sagt die Kassenfrau auf Nachfrage. Mögen Sie etwa keine Operette?

Pfingsten 2002. Aus dem Debakel in der Lutherstadt habe ich gelernt, statt der kleinen nehme ich mir jetzt die mittelgroßen Häuser vor. Schwerin, Mecklenburgisches Staatstheater: Das klingt nach Metropole, Hauptstadt, großer Welt. Schwerin ist bekannt für seine Wagner-Tradition, zuletzt trat Gesangsstar Helen Donath als Desdemona in Verdis „Otello“ auf, das prächtige Opernhaus wurde 1886 als „Großherzogliches Hoftheater“ eingeweiht.

Dass dieser Ruf auch Besucher von auswärts anzieht, kann sich in Schwerin offenbar keiner vorstellen. Karten würden nur gegen Zusendung eines Euroschecks reserviert, heißt es am Telefon barsch. Moment mal, Euroschecks sind doch längst abgeschafft? Egal, sagt die Hüterin der Tickets, wir brauchen einen Euroscheck. Eine raffinierte Abwehrstrategie, die Erfolg zu haben scheint. Während der besuchten „Tannhäuser“-Vorstellung bleibt der Saal halb leer.

Sommer 2003. Allmählich komme ich vom Weg ab. Zu wenig Konzentration auf die Oper. Ich beginne, auch die Trauerfälle anderer Sparten abzuarbeiten. Im thüringischen Nordhausen wird das Schauspiel geschlossen, in der Landeshauptstadt Erfurt ebenfalls. Ich besuche die letzte Premiere in der Kleinstadt am Harz, wenig später die allerletzte Vorstellung in Erfurt.

Alles erinnert an den Abschied in Frankfurt an der Oder, auch die Würstchen und das Freibier. Hätte ich mir für mein Projekt das Sprechtheater vorgenommen, müsste ich von Bestattung zu Bestattung reisen. Aber die Opern haben noch Schonfrist. Orchestermusiker sind in Deutschland unkündbar, und nur mit Konzerten lassen sich die vielen Klangkörper gar nicht sinnvoll beschäftigen.

Auf der Nordhäuser Premierenfeier klagt mir ein Musiker sein Leid. Damit er sich nicht vergebens in den Orchestergraben bemüht, schaut er vorher lieber in den Saal. Kommen nur eine Handvoll Zuschauer, sind die Künstler zum Auftritt nicht verpflichtet. Es kommt tatsächlich vor, dass die bis zu sechzig Instrumentalisten des örtlichen Orchesters wieder nach Hause gehen können.

Ganz anders in Erfurt. Dort macht nicht mangelnde Nachfrage dem Theater den Garaus, im Gegenteil, die Schauspieler müssen die Bühne räumen für die große Oper. Sie bekommt im September ein neues Haus, einen Bau von wahrhaft hauptstädtischen Dimensionen. Das Programm der ersten Spielzeit umfasst Koproduktionen mit der Oper Monte Carlo und dem Nationaltheater Prag.

Im Gegenzug wollen Thüringens Kulturpolitiker die Oper im benachbarten Weimar schließen. Doch die Klassikerstadt legt sich quer, der Intendant hat mit dem Betriebsrat einen kostensparenden Haustarif abgeschlossen und legt auch mit dem Musiktheater jetzt erst richtig los. Nun hat das kleine Thüringen gleich zwei Opern mit Metropolenanspruch. Rechnet man Meiningen hinzu, das schon Wagners gewaltigen „Ring“ in Szene setzte, dann sind es sogar drei.

Weihnachten 2003. Obwohl mir noch fast fünfzig Opernhäuser fehlen, beginne ich bereits mit Wiederholungen. Sechs Jahre nach dem „Fidelio“ kehre ich ins mecklenburgische Neustrelitz zurück. Zum ersten Mal seit langen Jahren wagt sich das Ensemble an eine Wagner-Oper. Der Graben ist für das riesige Orchester viel zu klein, deshalb sitzen die Musiker zur Abwechslung oben auf der Bühne.

Zweites Zugeständnis an die Provinz: „Tannhäuser“, sonst um mehr als die Hälfte länger, ist auf zwei Stunden gekürzt. Trotzdem ist es die beste „Tannhäuser“-Aufführung, die mir beim Tingeln durch die deutsche Opernprovinz begegnet ist – nicht so hausbacken wie in Eisenach, nicht so plump wie in Schwerin, nicht so uninspiriert wie in Berlin.

April 2004. Sechseinhalb Jahre reise ich jetzt von Oper zu Oper. An der Wand habe ich eine Deutschlandkarte aufgehängt, bunte Fähnchen markieren die besuchten Häuser. Es sieht aus wie bei einem Gesellschaftsspiel à la „Risiko“. Berlin und Hamburg, Thüringen und Brandenburg sind vollständig besetzt. In Sachsen-Anhalt fehlt noch Magdeburg, in Mecklenburg-Vorpommern steht Rostock aus. Schaffe ich auch in Sachsen noch die restlichen fünf Fähnchen, dann gehört der Osten mir. Aber der Westen ist noch immer Feindesland. Vor allem Nordrhein-Westfalen bleibt ein Problem. Stolze fünfzehn Opernhäuser, und allesamt so weit entfernt. Darf ich in diesem Spiel keinen Joker aufdecken?

Von den achtzig Städten habe ich gut dreißig geschafft. Jetzt wird es immer schwerer, weil ich immer weiter weg muss von Berlin. Das Opernsammeln wird zur Sucht, und die Sucht beginnt mich finanziell zu ruinieren. Zwar sind die Karten in der Provinz vergleichsweise günstig, aber hinzu kommt das Hotel, die Fahrt, das Essen. Die Freunde halten mit leisen Zweifeln an meiner Zurechnungsfähigkeit nicht mehr hinterm Berg. Verabredungen am Wochenende sind nur möglich, wenn ich zuvor die Spielpläne von Aachen bis Zwickau eingehend studiert habe.

Vielleicht sollte ich einen Reiseführer schreiben. Nicht nur die Opernhäuser kenne ich jetzt, sondern auch die örtlichen Hotels, die Restaurants und die akzeptablen Kneipen. Falls es welche gibt. Die Museen habe ich ebenfalls besucht, die staunenswerte Sammlung italienischer Renaissancemalerei in Altenburg, die große Gemäldegalerie in Greifswald, das prachtvolle Residenzschloss der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt. Irgendwie muss ich mich tagsüber ja beschäftigen, bevor ich abends in die Oper gehe.

Allmählich beginne ich daran zu zweifeln, ob ich in diesem Leben noch ans Ziel gelange. Zumal ich mich längst verzettelt habe. Den größten Fehler habe ich begangen, als ich für dieses Osterwochenende Karten für Wagners „Ring der Nibelungen“ kaufte. In Chemnitz! Da bin ich längst gewesen, und trotzdem gehe ich jetzt vier weitere Male ins selbe Opernhaus. Wo könnte ich an diesen Tagen überall noch Häkchen machen: Das benachbarte Freiberg fehlt auf meiner Landkarte, auch Zwickau und Annaberg-Buchholz stehen noch aus.

Merkwürdig: Es stört mich überhaupt nicht, diese Häuser auszulassen. Fast scheint es, als wäre ich von meiner Provinzopernmanie genesen.

RALPH BOLLMANN, 34, ist Inlandschef der taz. Er wuchs in einer Provinzstadt ohne eigenes Musiktheater auf. Opernhäuser besuchte er deshalb nur sporadisch