Schön volle Lunge

Viele kaputte Beziehungen: Jakob Ejersbos Kiffer- und Generationenroman „Nordkraft“

Wer an Dänemark denkt, denkt vor allem an nachbarliche Idyllen: Sandstrände, gepflegte Sommerhäuser mit Flagge, Kronprinz und Aschenputtel, Fahrradwege in Kopenhagen, helläugige blonde Mädels und Jungs, leicht bekleidet auf den Rädern. Und vielleicht auch noch an den Freistaat Christiania und dort speziell an die Pusher Street. Letztere, in Form einer hautnah-filmisch angelegten Begegnung zwischen Razziabullen und der jungen Pusherfrau Maria („immer deutsch ausgesprochen“), bilden den Anfang von Jakob Ejersbo Aalborg-Provinz-Kiffer-Generationenroman „Nordkraft“, der sich hauptsächlich um die Rückseite der Idyllen kümmert.

Im ersten Teil gibt es den literarischen Drauf- und Dreinblick in der Perspektive der jungen Maria, im zweiten Teil darf der Maschineningenieur Allan ran, der von großer Fahrt auf Öltankern zurückkehrt und sich nun die alte Szene vom Halse halten will. Im dritten Teil führt eine auktoriale Stimme einige der Fäden anlässlich einer Junkie-Beerdigung zusammen (Tod! – Erzähler? … ja, das hat schon auch Tiefe), und das mit einer sehr detailgenauen Darstellung und radikalen Sprachführung – allerdings nur im dänischen Original: Die deutsche Übersetzung ist teilweise zu mild.

Insgesamt also eine gelungene Gesamtkonzeption, die für Spannung beim Lesen sorgt und auch das bekanntermaßen schwer zu greifende Flimmerphänomen der Szene recht gut einfängt. Das spirituelle Leitmotiv dieser sozialepischen Alternativszenerie ist die Haschischdröhnung, auf 537 Seiten eine ganz schön volle Lunge. Der Stoff aber hat’s in sich.

„Nordkraft“ ist der Name des einstigen Wärmekraftwerks, das gemeinsam mit der Schiffswerft Aalborgs Erscheinungsbild als Arbeiterstadt geprägt hat. „Nordkraft“ könnte auch eine andere Energie bedeuten: den Kraftstrom der zähen und unverwüstlichen Norddänen, die nicht so schnell aufgeben und ihr Glück versuchen. Nur: Viel davon steht nicht im Programm der Neunzigerjahre, nicht für sie. Der Wohlfahrtsstaat ist auf steiler Talfahrt, breite Schichten der Bevölkerung befinden sich plötzlich in sozialen Engpässen, auch die dänische Gemütlichkeit kennt ihre Grenzen, und ein paar bleiben ganz außen vor.

Der kiffende und vögelnde Underground ist ein bekanntes Feld. Doch die Szene der Kleindealer, Vollblut- und Gelegenheitskiffer und ausgegrenzten Einwanderer steht jetzt für eine neue soziale Mischung – Maria bekommt ihre Kinder schließlich nicht vom drögen Kleindealer Asger, sondern vom etwas fixeren Jungen aus dem Iran. Dieser rasiert sich dafür sogar den Schnauzer ab und wird ein „Hühnerarsch“, wie der persische Mann zu sagen pflegt: eine korrekte und gutwillige Gegenposition zum um sich greifenden Rassismus. Ansonsten bilden in Jakob Ejerbos Roman gescheiterte 68er-Familienbeziehungen das Hintergrundrauschen der dänischen Gesellschaft, was sich letztendlich auch als ein Abgesang auf den alternativen Generationenvertrag lesen lässt.

Als „Nordkraft“ letztes Jahr in Dänemark erschien, war sich Jakob Ejersbo, Jahrgang 1968, nicht so ganz sicher, ob dieses Aalborg-Porträt allgemein gefallen würde. Aber es hat. Es gab Preise, das Buch wurde ein Bestseller, und auch eine Verfilmung ist geplant. Ist das nun eine klassische Katharsis? Oder frisst die Revolution mal wieder ihre eigenen Kinder? MARTIN ZÄHRINGER

Jakob Ejersbo: „Nordkraft“. Aus dem Dänischen von Sigrid Engeler. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004, 537 Seiten, 22,90 Euro