BERNHARD PÖTTER über KINDER
: An der Hand gehen? Niemals!

Von Kindern lernen: Woran der Sozialismus in Deutschland gescheitert ist (Teil 1): Freiheit

„Selber machen!“

Tinas Kampfgeschrei schallt durch die Wohnung. Morgens kurz nach acht, die Zeit drängt. Sie sitzt auf dem Boden im Flur und stopft beide Füße in ein Bein der Strumpfhose. Die sieht aus wie eine überfressene Anaconda.

„Komm, Tina, ich helfe dir“, sage ich vorsichtig.

„Kann alleine!“

Der Kopf hochrot. Tränen der Wut und der Frustration sammeln sich in ihren Augenwinkeln. Gleich wird sie explodieren. Da fädelt Jonas ihr Bein in den richtigen Strumpf ein. Voller Triumph steht sie auf und zieht die anderen Wintersachen an. Als wir zum Kindergarten hasten, sieht meine Tochter aus, als hätte sie sich im Tiefschlaf angezogen: Die Hose sitzt verkehrt herum. Der linke Schuh am rechten Fuß und umgekehrt. Der Schal ist so fest um den Hals geknotet, dass sie kaum atmen kann. Aber alles „kann alleine“.

Der Alleinvertretungsanspruch einer Zweieinhalbjährigen ist enorm. Wehe, jemand will bestimmen, was auf ihr Brot geschmiert wird. Wehe, jemand will dieses Brot schmieren. Wehe, die turnusmäßige Puppe ist am Abend nicht zu finden, um neben ihr zu schlafen. Und wehe, ich versuche ihr klar zu machen, dass alle 72 Windeln aus der Aldi-Packung gleich sind: Nein, heute ist Dienstag, und genau diese ist die Dienstagswindel. Nein, die da. Oder doch die.

„Dieser eiserne Wille“, sagt Tante Sonja voller Bewunderung. „Diese Entschlossenheit und Durchsetzungskraft.“ Tante Sonja wohnt in Schwedt und glaubt noch immer an den Sozialismus. „Die hätte ich gern in meiner Brigade gehabt. Mehr von diesen willensstarken Frauen, und wir hätten den Sozialismus gerettet.“

Bei allem Respekt vor Tante Sonja und der Arbeiterbewegung: Das genaue Gegenteil ist wahr. An Tina sieht man, woran der Sozialismus gescheitert ist. Sich vorschreiben lassen, was und wie man es zu tun hat? Was man besser lassen soll? Sich zurücknehmen für das Wohl der Gemeinschaft? So etwas geht großen und kleinen Kindern völlig gegen den Strich. Tina hätte den Bau der Mauer vielleicht noch akzeptiert. Aber ein blaues Halstuch zu tragen, weil es ihr jemand befiehlt – spätestens da wäre meine Tochter zur Dissidentin geworden. Schließlich will sie auch ums Verrecken nicht an Papas Hand über die Straße gehen – auch wenn die Lkws direkt vor ihrer Nase vorbeidonnern.

„Du tust dem Sozialismus Unrecht“, sagt Sozi-Sonja. „Wir wollten einen gerechten Staat. Dafür muss jeder Einzelne eben ein bisschen zurückstecken.“ Schon richtig. Aber sehr abstrakt. Wer will sich für eine bessere Zukunft einschränken? Meine Kinder jedenfalls nicht. Zwangsbeglückung treibt sie die Wände hoch. Und welche Aussage führt die Hitliste der meistgehassten Elternsprüche an? Genau: „Ich will doch nur dein Bestes.“

Familientherapeutisch betrachtet war die DDR ein Härtefall. Die SED war eine große Übermutter, die ihr Kind nicht in Ruhe lassen kann. Die ihm nichts zutraut, es von allem abschirmt, ermahnt, böse bestraft – und die dann überrascht ist, wenn es an seinem 40. Geburtstag zum Gegner überläuft. Die DDR war ein saumäßig geführter Kindergarten: spießig, autoritär, erfolgsfixiert, voller Minderwertigkeitskomplexe und mit immer schlecht gelauntem Personal.

„Ich glaube, du spinnst“, sagt Tante Sonja. „Du willst doch nicht sagen, dass der Kapitalismus die kinderfreundliche Gesellschaftsform ist?“ Warum nicht? Es gibt Smarties im Überfluss, es gibt Prinzessinnen und schnelle Autos, niemand sagt dir, was du anziehen sollst, und solange du Leistung bringst, ist alles egal. Zumindest aus der Sicht einer Zweieinhalbjährigen ist der Kapitalismus das überlegene System. Kinder sehen ja auch Geistesverwandte in erfolgreichen Kapitalisten: Beide brüllen los, wenn ihnen was nicht passt. Beide lieben schnelle Autos. Ihnen fehlt ein Gewissen. Ständig schubsen sie Kleine und Schwache aus ihrem Weg. Und beide spielen mit Barbie-Puppen Anziehen, Ausziehen.

Fragen zur Freiheit? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN

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