Über alle Berge hinweg

Das alte Tibet wird im Westen gern verklärt, seine moderne Literatur aber kaum wahrgenommen. Zwei neuen Anthologien und ein Roman bieten nun ungewöhnliche Blicke auf die Himalayaregion

von MARTIN ZÄHRINGER

„Welchen Himalaya hätten Sie denn gern?“, fragt der nepalesische Journalist Kanak Manit Dixit in einem Essay. Den des „Shangri-La, jenes Land, in dem nicht Materialismus und Konsumdenken vorherrschen, sondern Spiritualität das Handeln der Menschen lenkt“? Oder diesen: „Von den Balti im Karakorum bis zu den Naga im äußersten Osten treibt die Völker des Himalaya ein ähnliches Erwerbsstreben voran wie den Rest der Menschheit.“

Moderne literarische Stimmen aus Tibet sind selten zu vernehmen hierzulande. Doch nun hat die Sinologin Alice Grünfelder gleich zwei Anthologien mit tibetischen und anderen Texten aus der Himalayaregion herausgegeben. Die eine heißt „Himalaya –Menschen und Mythen“ und versucht in 22 Erzählungen, Legenden, Essays und Feuilletonartikeln einen Zugang in die gegenwärtige Welt dieser Gegend zu öffnen, in die Bergwelt zwischen Tibet, Nepal, Bhutan, Sikkim, Indien und Pakistan. Natürlich geht es in dem Band auch ums Bergsteigen und um Yetis, um Buddhismus und Mönche. Das Entscheidende aber ist: Alle Autoren stammen aus der Himalayaregion, und liefern Einblicke jenseits der einschlägigen Reiseliteratur.

Die zweite Anthologie trägt den Titel „An den Lederriemen geknotete Seele“ und hat sich einer ähnlichen Verschiebung der Perspektiven verschrieben: nicht Literatur über Tibet, sondern aus Tibet. Die Autoren Tashi Dawa (1959), Alai (1959) und Sebo (1956) sind in Tibet geboren und haben in China studiert und gearbeitet. Sie nähern sich – durch ihre Erfahrungen mit der kulturellen Großmacht China und durch Erfahrungen mit der literarischen Moderne – einem neuen, anderen Tibet. Sie beschwören keine „authentische tibetische Kultur“. Aber ihre zeitgenössischen literarischen Konzepte sind ästhetisch an die kulturellen Traditionen geknüpft.

So etwa in der Titelgeschichte von Tashi Dawa: Der Lederriemen entspricht der Mala, einem Gebetskranz mit 108 Perlen, die für die 108 Boddhisattvas stehen – erleuchtete Wesen, die auf das Nirvana verzichten, um der Menschheit beizustehen. In der Geschichte von Qiong, dem Hirtenmädchen, ist sie die Knotenschnur, in die Qiong die Tage ihrer Abwesenheit von ihrer Heimat knüpft. Ihr Vater ist ein Barde, der das mächtige Epos von Gesar singt, und während einer seiner Tourneen geht sie mit dem jungen Tabei davon.

Die Fabel erzählt von ihren Erlebnissen und Reisen durch Tibet, aber Tashi Dawa hält einen besonderen Clou bereit: Die Geschichte wird dem Erzähler von einem befreundeten, lebenden Buddha erzählt – dieselbe Geschichte, die er vor langer Zeit selbst geschrieben, doch in einer Truhe verborgen gehalten hat. Es geht also um den Übergang vom Leben in den Tod, vor allem aber um die Übergänge zwischen alter und neuer Kultur und das Problem einer neuen Literatur.

Der Autor Alai bearbeitet das gleiche Thema im Rahmen einer Novelle: Ein junger Postbote reist auf den Spuren Walt Withmans ins tibetische Hinterland, wird plötzlich vom Erfrierungstod überrascht, dann aber von zwei tibetischen Mönchen entdeckt und wiederbelebt. Diese Szene im tiefsten tibetischen Wald bietet Gelegenheit, scheinbar unvereinbare Denkweisen in einer grundmenschlichen Handlungsweise zu versöhnen.

Versöhnung und Annäherung versuchen alle Texte dieser kleinen Sammlung zu leisten – zwischen dem alten Tibet mit seiner buddhistisch-religiösen Kultur, den traditionellen Lebensformen und Denkweisen einerseits und den künstlerischen Perspektiven einer neuen Generation andererseits.

Von Alai stammt auch der in chinesischer Sprache geschriebene Roman „Roter Mohn“, den man als richtig großen Wurf bezeichnen kann; der Autor wurde dafür mit dem wichtigsten chinesischen Literaturpreis ausgezeichnet. Es ist ein modernes Epos vom späten Ende des tibetischen Feudalismus und spielt kurz vor der chinesischen Okkupation in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der Erzähler ist das Kind einer chinesischen Mutter und eines tibetischen Vaters.

Als zweiter Sohn eines Fürsten führt er ein sorgloses und lustvolles Leben, wird aber seiner vielen Absencen wegen als „Idiot“ bezeichnet. So betrachtet er sich zunächst selbst auch als solcher, kommt aber immer mehr dahinter, dass die so genannten Intelligenten in seiner Umgebung die Weisheit auch nicht gepachtet haben. Was der eitle, machtverliebte Fürst und sein gierig-träger Hof in den letzten Tagen des Regimes so treiben, führt schleichend in den Untergang. Die historische Entwicklung wird von einer Instanz mit den besten Voraussetzungen gesichtet: „Zum Glück war ich durch meine Dummheit nicht verletzbar. Ein Idiot liebt oder hasst nicht, sondern sieht nur die nackten Tatsachen. Auf diese Weise ist seine verletzliche Seele von einer schützenden Mauer umgeben.“

Sie verhärtet ihn nicht, diese schützende Mauer, nein, dieser moderne Barde entwickelt sich, getragen von dem andauernden Zweifel über seinen mentalen Zustand, aber gesegnet mit Beobachtungsschärfe und Darstellungslust. Die „nackten Tatsachen“, die er sieht und grandios schildert, dürften andere verletzliche Seelen und Anhänger des „Shangri-La“ eher beunruhigen. Schön war dieses alte Tibet nur für seine Fürsten und deren Equipage. Aber Alai, der Biograf ihres Untergangs, hat es in ein sagenhaftes Buch verwandelt.

„Himalaya – Menschen und Mythen“. Hg.: Alice Grünfelder. Unionsverlag 2002, 320 Seiten, 19,80 €Ľ„An den Lederriemen geknotete Seele. Erzähler aus Tibet“. Hg.: Alice Grünfelder. Aus dem Chinesischen von A. Grünfelder und Beate Rusch. Unionsverlag 2000, 160 Seiten, 8,90 €ĽAlai: „Roter Mohn“. Aus dem Chinesischen von Karin Hasselblatt. Unionsverlag 2004, 446 Seiten, 22,90 €