Front gegen Westen

Wer immer den Irak regiert, muss sich politisch von den Besatzern distanzieren

VON KARIM EL-GAWHARY

Blühende demokratische Landschaften in despotischen arabischen Wüsten, so hat es die US-Regierung versprochen. Eine Insel der Stabilität und des Friedens sollte entstehen, so lautete das Kriegsmarketing. Der Irak sollte als demokratisches Musterland nach außen erscheinen und alle umliegenden Länder in einer Art Dominoeffekt mit sich reißen. Dankbar sollten die Araber sich gen Washington verneigen. Den verbliebenen heiligen Kriegern wäre der Teppich unter den Füßen weggezogen. Die präsentierte Rechnung war einfach.

Doch ein Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges ist Washington mit seinem gesamtregionalen Projekt bereits im Irak in einem Zweifrontenkrieg stecken geblieben. Eine überforderte US-Armee kämpft gegen sunnitische Guerilla und schiitische Aufständische zugleich. „Herzen und Köpfe“ werden dabei schon lange nicht mehr gewonnen. „Zeigen, wer der Stärkere ist“, hieß das schlichte Motto in der letzten Operation in der Guerilla-Hochburg Falludscha. Eine angeblich „präzise Operation“, der bis zum Wochenende 600 Iraker zum Opfer fielen. Über die schiitischen Armenvierteln Bagdads, in denen die Anhänger des radikalen Schiitenführers Muktada al-Sadr es nun militärisch mit den US-Soldaten aufnehmen, wurden erstmals seit dem Krieg wieder Kampfhubschrauber geschickt, um Wohngebiete zu beschießen. Die Entführung von Ausländern ist zur neuen Kommunikationsmethode zwischen Guerilla und Besatzungsmächten geworden.

Statt zum leuchtenden Beispiel, ist Irak zur No-go-Area geworden, und das nicht nur für US-Soldaten. Allein 70 Tote vermelden die Besatzungstruppen seit Anfang des Monats. Sie müssen Washingtons Versagen ausbaden, den politischen Prozess im Nachkriegsirak zu organisieren. Der Zug der internationalen Legitimierung dieses Prozesses durch Einschalten der UNO ist abgefahren. Jetzt kann es nur noch darum gehen, so schnell wie möglich eine nationale Legitimität zu schaffen. Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz. Sicherheit kann im Irak nicht durch militärische Stärke, sondern nur durch eine politische Führung geschaffen werden, die von den Irakern anerkannt wird. Diese durch Wahlen zu schaffen, bedarf allerdings der Sicherheit.

Die einzige Errungenschaft ist bisher eine zwar für die Region vorbildliche Übergangsverfassung, die den Menschen aber einfach als Fait accompli serviert wurde, und die dadurch von allen Seiten angreifbar ist. Bis heute wissen die Iraker nicht, wer sie nach dem 30. Juni, dem offiziellen Datum der Machtübergabe, regieren soll. Der bisherige Regierungsrat hat genauso wenig Legitimität wie das nächste Gremium. Wer immer den Irak auch nur übergangsweise regiert, kann sich nur Glaubwürdigkeit verschaffen, indem er eine möglichst unabhängige Politik gegenüber den Besatzern fährt.

Bei der letzten US-Operation in Falludscha kam es bereits fast zum offenen Bruch zwischen US-Besatzungsverwaltern und irakischem Regierungsrat, von dem zahlreiche Mitglieder mit Rücktritt drohten. Das erste Mal zeigte der Regierungsrat seine nicht sonderlich ausgebildeten Muskeln und erreichte, dass die US-Besatzer, trotz Widerstands in den eigenen Reihen, einen mehrtägigen Waffenstillstand in Falludscha verkündeten. Zwar ist der Regierungsrat von den Besatzern handverlesen, wenn er aber ein Fünkchen Glaubwürdigkeit unter den Menschen haben soll, die er zu repräsentieren vorgibt, dann muss er sich von den Besatzern, die ihn geschaffen haben, politisch trennen. Bisher hat sich der Regierungsrat nicht als politische Alternative zum militanten Widerstand gegen die Besatzung erwiesen.

Das könnte sich für den zweiten Teil der Jahreshälfte ändern: Denn die Sollbruchstelle zwischen irakischem Regierungsgremium und den Amerikanern hat bereits ein Datum. Am 1. Juli wollen die Amerikaner offiziell das Ende der Besatzung verkünden. Paradoxerweise dürfte aber eine der ersten Akte der vermeintlichen neuen irakischen Souveränität darin bestehen, die Souveränität wieder einzuschränken, denn Washington erwartet die Unterzeichnung eines Sicherheitspaktes, der die langfristige Stationierung seiner Truppen in mindestens sechs Stützpunkten garantieren soll. Die US-Besatzungsverwaltung, die heute hinter hohen Mauern in der schwer befestigten grünen Zone regiert, wird dann in eine US-Botschaft umgetauft. Mit geplanten 3.000 Mitarbeitern wird das neue Konstrukt die größte amerikanische diplomatische Vertretung weltweit darstellen. Unter Saddam wurden den Technokraten in den Ministerien regimefeste Geheimdienstleute zur Seite gestellt. Eine Rolle in einem Parallelsystem, die nun wohl auch nach dem offiziellen Ende der Besatzung auch weiterhin von einem amerikanischen „Berater“ ausgefüllt wird.

Nach einer Umfrage des Instituts für Psychologie rechnen 41 Prozent aller Iraker mit einem Bürgerkrieg. Ausländische Diplomaten in Bagdad prognostizieren ein „jugoslawisches Szenario“. Spätestens nach dem für Anfang nächsten Jahres angesetzten Wahlgang, dürfte das Land an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen, lautet deren Schlussfolgerung. Ein Grund, sagen sie, warum Washington so erpicht darauf war, den Wahltermin zu verschieben, auf einen Zeitpunkt nach den eigenen US-Wahlen. Ein Bürgerkrieg als Ergebnis seiner militärischen Irakoperation würde für George Bush nicht gut aussehen. Wobei offen bleibt, ob ein Auseinanderbrechen des Irak in einen schiitischen, sunnitischen und kurdischen Teil von Anfang an im US-Interesse war, nach dem alten kolonialen Konzept des „teile und herrsche“, oder ob ein Bürgerkrieg ein nicht beabsichtigtes Ergebnis einer verfehlten Besatzungspolitik wäre, das die Region in Instabilität stürzt, die spätestens dann nicht mehr in Washingtons Interesse sein kann, wenn sich die Krise nicht mehr eindämmen und managen lässt.

Doch seit letzter Woche zeichnet sich noch ein zweites mögliches Szenario ab. „Wir sind alle Falludscha“, lautet der neue Schlachtruf, und das nicht nur bei der sunnitischen Guerilla, auch in den schiitischen Armenvierteln Bagdads taucht der Spruch an den Häuserwänden als Graffiti auf. Der sunnitische und schiitische Klerus rief angesichts der Bedrohung durch die Besatzung zur Einheit auf und predigte an manchen Orten sogar gemeinsam. Damit hätte die Besatzung als allen gemeinsamer Feind unbeabsichtigt echtes „nation building“ geleistet. Beides, Bürgerkrieg und nationale Front gegen die Besatzer, bleiben reelle Optionen für die Zukunft des Landes. In welche Richtung sich die Waagschale richten wird, hängt am Ende auch von Nachbarn des Landes ab und der Frage, in welche Schale sie ihr Gewicht werfen werden.

Länder wie Iran und Syrien haben ein Interesse an chaotischen Verhältnissen im Irak, schon allein, damit Washington jeglichen Geschmack an weiteren Interventionen in der Region verliert, bei denen sie wahrscheinlich als nächstes auf der Liste gestanden hätten. Aber beide haben kein Interesse, die Instabilität soweit voranzutreiben, dass ihr Nachbar in mehrere wenig berechenbare Teile auseinander bricht. Ein dauerhafter Einfluss auf den gesamten Irak mit seiner schiitischen Mehrheit beispielsweise ist sicherlich besser für Teheran als ein zugegebenermaßen stärkerer Einfluss in einem nur begrenzten schiitischen Teil im Süden des Irak.

Für die anvisierte Demokratisierung der Region gibt der Irak derzeit jedenfalls bisher keine direkten Impulse. Im Gegenteil: „Erst haben sie unsere Regime 50 Jahre lang mit dem Palästinakonflikt hingehalten, jetzt werden sie noch einmal 50 Jahre lang zusätzlich die instabile Lage im Irak als Vorwand für den Aufschub von Reformen benutzen“, befürchtet ein ägyptischer Demokratieaktivist. Die unzähligen Protestdemonstrationen gegen die Besatzung im Irak und die Ermordung des palästinensischen Hamasführers Scheich Jassin dienen nicht gerade als Motivationsschub für die arabischen Regierungen, ihre überall geltenden Notstandsgesetze aufzuheben, zumal auch der Unmut über die schlechte wirtschaftliche Lage schon fast den Siedepunkt erreicht hat. Sämtliche Mitgliederstaaten der Arabischen Liga haben ein geringeres Bruttosozialprodukt als Spanien.

Dennoch, die Anwesenheit von 150.000 US-Soldaten im Herzen der arabischen Welt und das Beispiel des Sturzes Saddams mag einigen arabischen Regimes als Warnung dienen, welches Schicksal sie ereilen könnte, sollten sie sich nicht politisch öffnen. Natürlich lassen sich der Polizeistaat Tunesien, die pharaonische Präsidialdiktatur Ägypten, das Baathregime in Syrien, das saudisch-islamische Königreich oder die Emire der Minigolfstaaten wie Qatar oder Kuwait nicht über einen Kamm scheren. Jeder Staat hat seine Eigenheit der nicht zur Rechenschaft ziehenden Machteliten. Aber eines ist denen derzeit gemeinsam: Sie alle führen das Reformbekenntnis auf den Lippen. Ihr Dilemma: Reformieren sie nicht, landen sie früher oder später auf dem Müllhaufen der Geschichte, doch auch die politische Größe, sich in letzter Konsequenz selbst wegzureformieren, besitzen sie nicht. Es gab in den letzten 50 Jahren keinen einzigen arabischen Führer, der abgewählt wurde. Veränderungen waren entweder biologischer Natur und wurden mit dem Tod des Staatsoberhauptes eingeleitet, mit einem Militärputsch oder, jetzt in Mode, mit einer ausländischen Intervention.

Also begnügen sich die Herrschenden mit halbherzigen Reformen und versuchen mit altbewährten arabisch-nationalistischen Argumenten die eigenen Reformbewegungen zu Hause als Handlanger Washingtons zu diskreditieren. Sie stützen sich dabei auf ein in der arabischen Welt weit verbreitetes tiefes Misstrauen gegenüber Washington, das sich jetzt als Vorreiter für Menschenrechte, Demokratie und Abrüstung in der Region (mit Ausnahme Israels) präsentiert. Washington spricht von Demokratisierung der arabischen Welt, lautet der immer wieder zu hörende arabische Vorwurf, meint aber in Wirklichkeit, die arabischen Staaten trotz Besatzung des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens und der Golanhöhen in gute Nachbarn Israels zu verwandeln, sie in den Antiterrorkampf zur integrieren und den sicheren Ölfluss zu garantieren.

Ob es ernsthafte Reformen geben wird, hängt am Ende davon ab, wie äußerer Druck und interne politische Bewegungen zusammenwirken, selbst wenn es zwischen beiden keine Liebesbeziehung gibt. Arabische Reformer, Menschenrecht-, Frauenrecht- und Demokratieaktivisten gehören in ihren Ländern zu den größten und radikalsten Kritikern des Westens. Den Druck auf die eigenen Regime empfinden sie dennoch als nützlich.

Die Situation erinnert ein wenig an die arabische Kolonialgeschichte. Damals hatten die Araber politische Prozesse von den Kolonialherren kopiert, um nicht nur die eigenen antiquierten Herrscher, sondern am Ende auch die Kolonialherren selbst loszuwerden. Nichts spricht dagegen, dass es in unserer neokolonialen Zeit erneut zu einer solchen Dynamik kommen könnte. Wir erinnern uns. Es gab in der ganzen Region im Vorfeld des Krieges nur eine einzige demokratische Entscheidung: die Weigerung des türkischen Parlaments, ihr Land den US-Truppen als Aufmarschbasis gegen den Irak zur Verfügung zu stellen.