Kein Anschluss unter diesem Leben

Am Ende bleiben nur mahlende Oberkiefer: Patty Jenkins erzählt in „Monster“ die wahre Geschichte einer Verstoßenen, die irgendwann blindwütig zu morden beginnt. Dabei überzeugt vor allem Charlize Theron mit ihrer präzisen Darstellung der 2002 hingerichteten Serienmörderin Aileen Wuornos

VON ANDREAS BUSCHE

Ganz richtig stellte Georg Seeßlen erst kürzlich in der taz fest, dass es da draußen Filme gibt, denen man – noch bevor die ersten Bilder überhaupt zu sehen sind – keine faire Chance einräumen will. Dass dies aber kein per se protektiv-reaktionärer Affekt ist, zeigt seit einigen Wochen, genauer gesagt: seit der diesjährigen Oscar-Verleihung, Patty Jenkins’ Biodrama „Monster“.

Die Art und Weise, wie bisher über Jenkins’ Film berichtet wurde, und die euphorischen Reaktionen auf Charlize Therons darstellerische Leistung als Serienmörderin Aileen Wuornos, für die sie im März erwartungsgemäß mit dem Academy Award ausgezeichnet wurde, haben die unvoreingenommene Sicht auf den Film, der gern mit selten produktiven Attributen wie „provokant“ oder „mutig“ bedacht wird, bereits vor seinem morgigen Deutschland-Start verstellt. Die allgemeine Begeisterung darüber, dass ein Exmodel in die Rolle einer Serienmörderin von der Statur einer Truckerin schlüpfen kann, sagt dabei zunächst mehr über den Zustand der Filmkritik aus als über Therons darstellerische Leistung.

Hat man aber erst einmal den ganzen Ballast von öffentlicher Meinungsproduktion selektiert und einen unvoreingenommenen Zugang zu Jenkins’ Debütfilm gefunden, bleiben als nachdrücklicher Eindruck tatsächlich der mahlende Oberkiefer Charlize Therons und die fahrigen Bewegungen, mit denen sie sich ihre schlecht aufgeföhnte Frisur nach hinten streicht, im Gedächtnis haften. Ihr manisch-stierer Blick erzählt die traurige Geschichte einer jungen Frau, die ein Teenagerleben lang auf ihren Traumprinzen gewartet hat, um später Floridas Highways nach Freiern für 5-Dollar-Blowjobs abzuklappern. Drei Gesten bzw. Ausdrücke sind das gesamte Repertoire, das Theron bei ihrer Darstellung von Aileen Wuornos einsetzt. Wer eine der beiden Dokumentationen Nick Broomfields über „die erste Serienmörderin Amerikas“ kennt, wird allerdings verblüfft feststellen, wie sorgfältig Theron die Verhaltensweisen Wuornos’ studiert hat. Die Mimesis funktioniert nicht nur über die Arbeit der Maskenbilder, sondern bis hin zu Körperhaltungen und Redegewohnheiten. Lacht sie, scheint ihr Gesicht fast zu zerfallen. Von Theron geht eine permanente Anspannung und Unruhe aus, die dem Film so lange zugute kommt, wie er sich mit konventionellen dramatischen Mitteln zurückhält.

Therons körperliche Anspannung ist für das Verständnis von „Monster“ unglaublich wichtig. Genauso wie auch Jenkins’ Typisierung der Freier später eine bestimmte psychologische Funktion übernimmt, um die Ambivalenz von Wuornos aufzuzeigen. Ähnlich wie Broomfield versucht Jenkins eine andere Geschichte hinter den Morden zu finden, als sie durch die Medien kolportiert wurde. Für die US-Öffentlichkeit war Wuornos nicht mehr als ein Männer hassendes Monster, und auch der deutsche Verleih macht einen dummen Fehler, wenn er den Filmtitel fälschlicherweise auf Wuornos bezieht. „Monster“ ist bei Jenkins jedoch der Name eines Riesenrads aus Wuornos’ Kindheit – eine Geschichte, die die Regisseurin in den Gefängnis-Briefwechseln mit einer Jugendfreundin entdeckte. Sie habe, erzählt Wuornos in „Monster“, das Riesenrad als Kind jeden Tag von ihrem Zimmer aus sehen können und davon geträumt, es einmal fahren zu können. Als es schließlich so weit war, wurde ihr von der Fahrt so schlecht, dass sie danach kotzen musste. Für Jenkins besitzt diese Geschichte Symbolwert. Der Traum von einem Leben, an dem einem die Teilnahme von Beginn an versagt blieb.

Jenkins arbeitet in „Monster“ bevorzugt mit den Mittel der dramatischen Verdichtung. Wuornos’ Jugend zieht in einer kurzen Szenenabfolge vorüber: vorsichtige Versuche menschlicher Annäherung, die wieder nur mit einer Bezahlung enden; der nächste Prinz/Freier, die nächste Enttäuschung. Eine kurze Einführung in das Leben am Rande der Trailerparks. Mit neun Jahren musste Wuornos hinter dem Haus ihrer Mutter in ein Zelt ziehen: winzige Bruchstücke einer zerschmetterten Biografie. Keine Entschuldigungen, aber nachvollziehbare Ursachen für die mahlenden Kiefer. „Monster“ erzählt die wahre Geschichte einer Verstoßenen, der das Leben so schlecht mitgespielt hat, bis sie dachte, sie könnte sich nehmen, was ihr zustand. Die so tief unten angelangt war, dass sie meinte, für ihre letzte Chance auf Wiedergutmachung töten zu dürfen. Kein Miss-45er/Foxy Brown/Ich-spuck-auf-dein-Grab-Rachefeldzug, sondern reiner Überlebenskampf. Denn das Morden beginnt erst, als Wuornos tatsächlich etwas zu verlieren hat. (Die erste Vergewaltigung, im Film der einzig sichtbare männliche Übergriff, bleibt hier die Ausnahme. Allen weiteren Morden geht kein Missbrauchsversuch voraus.) Christina Ricci spielt in „Monster“ diesen Menschen, der für Wuornos die laut Broomfield erste stabile Beziehung ihres Lebens darstellte. Ihr Wunsch nach Normalität wird deutlich in den verzweifelten Versuchen, der viel jüngeren Selby Wall, Riccis Figur, und sich ein Leben einzurichten. Aber jeder Versuch am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, endet mit Handgreiflichkeiten.

Es gibt noch einen anderen (fiktiven) Menschen in Wuornos’ Leben, der ihr ähnlich viel Respekt entgegenbringt wie Jenkins. Thomas, gespielt von Bruce Dern, ist eine Bekanntschaft aus dem „Last Ressort“, der Bikerbar, in der Wuornos schließlich verhaftet wird.

Jenkins will Aileen Wuornos nicht zur feministischen Märtyrerin stilisieren, dafür war die echte Wuornos ohnehin eine viel zu ambivalente Persönlichkeit. Trotzdem verhehlt der Film seine Sympathien nicht. Vielleicht muss „Monster“ am Ende deswegen auch über konventionelle erzählerische Mittel wie Empathie, Musikeinsatz und Method Acting funktionieren. Wenn der Soundtrack anzuschwellen beginnt, weil Wuornos sich in die Ecke gedrängt fühlt, versucht Jenkins den Zuschauer mit einfachsten psychologischen Tricks zu manipulieren. Therons kantiges Muskelspiel wirkt dagegen viel überzeugender, gerade weil es sich auf so wenige Ausdrücke beschränkt.

Kein Film vermag einen Menschen wie Aileen Wuornos zu erklären. Ihre unheimliche Arroganz gegenüber dem Leben ihrer Opfer, in denen sie nur potenzielle Täter sah. Die todbringende Sehnsucht nach Geborgenheit. Noch nach der Verkündigung ihres Todesurteils hatte sie versucht, ihre Taten vor der Öffentlichkeit als Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Um Parteinahme geht es Jenkins mit ihrem Film nicht. Jeder sozialkritische Impuls muss an Wuornos’ blindwütiger Verzweiflung versagen. Was bleibt, ist ein trauriges Schicksal. Der Blick hinter die deprimierende Geschichte ruft kein Gefühl der Genugtuung mehr hervor, sondern nur noch blankes Entsetzen. Es scheint, als sei der Mensch sich selbst das größte Monster.

„Monster“. Regie: Patty Jenkins. Mit Charlize Theron, Bruce Dern, Christina Ricci u. a. USA 2003, 120 Min.