Pure Verstörung

Die Rache des Zivildienstleistenden: „Schussangst“ von Dito Tsintsadze erzählt unaufgeregt und eigenwillig

Lukas redet nicht viel, er rudert lieber. Am liebsten mitten in der Nacht. Das rhythmische Einstechen der Ruderblätter, das ruhige Durchziehen gegen den Widerstand der trägen Masse, der Gleichtakt von Muskelarbeit und Atmung, die Übersetzung von Kraft auf Weg. Nur selten erweist sich das Leben als so kalkulierbar und befriedigend wie in diesen immer gleichen Bewegungsabläufen, die kein anderes Ziel zu kennen scheinen außer der puren Wiederholung.

Man weiß nicht genau, was mit diesem Lukas Eiserbeck (Fabian Hinrichs) in dem Film „Schussangst“ des georgischen Regisseurs Dito Tsintsadze nicht stimmt. Er ist zu ungelenk für die Liebe, zu unscheinbar, um Eindruck zu machen, und zu phlegmatisch, um außerhalb des Rudersports zu Höherem berufen zu werden als zum Essenausfahren. Der Zivildienstleistende hält sein Unbehagen am System und der fehlenden eigenen Bestimmung lange hinter einer gleichmütigen Miene zurück. Tagein, tagaus durchquert Lukas ein gespenstisches Panoptikum aus Vergessenen und Bedürftigen. Gealterte Huren, die auf ihre Linie achten und sich über jeden freuen, der sie noch anfassen will. Kriegsveteranen, die sich in vergangene Schlachtseligkeit zurückfaseln und nicht müde werden, detailreich ihre Versehrtheiten auszumalen. Greisinnen, die ihre Mahlzeit mit ihren Schoßhündchen teilen. Dazu die Kollegen, die in den Pausen über Prostatabeschwerden, Menopausen und die Geruchsrichtungen des Alterns witzeln.

Lukas verlegt sich ganz auf undurchsichtiges Schweigen. Vielleicht, weil er am besten weiß, woran die Welt krankt. Oder weil ihn langsam die fürchterliche Ahnung beschleicht, dass er selbst vielleicht der Unerträglichste von allen ist.

Als eine junge Frau, Isabella (Lavinia Wilson), ihm in der Straßenbahn einen schriftlichen Hilferuf zusteckt, reift in Lukas der Plan, wenigstens einmal den Lauf der Dinge als Vollstrecker zu dirigieren. Legitimer Terror gegen unverzeihliche Ignoranz, so seine Gerechtigkeitsrechnung. Der Stiefvater, der Isabella missbraucht, wird zur Zielscheibe. Und plötzlich bekommt der lethargische Kriegsdienstverweigerer diesen fiebrigen Raskolnikow-Blick, betrachtet das Gewehr auf seiner Blümchenbettwäsche und verabschiedet sich mit rasendem Herzen von dem Universum der Durchschnittlichen. Es wird seinem Seelenheil nichts mehr nützen. Der Vollstrecker kommt zu spät. So will es die Ironie des Drehbuchs, das sich gelegentlich im allzu aufdringlich Verrätseltem verliert. Da wimmelt es vor sophistischen Kommissaren und surrealen Tauchern. Und manchmal bereisen die Figuren den Alltag mit der angestrengten Kindlichkeit eines kleinen Prinzen.

Die Jury in San Sebastián musste sich gehörig ausbuhen lassen, als sie Regisseur Dito Tsintsadze im vergangenen Jahr den „Concha De Oro“ für die deutsche Produktion „Schussangst“ überreichte. Auch die internationale Presse schüttelte den Kopf über diese Entscheidung.

Nach dem albernem Konstrukt „Lost Killers“ des in Berlin lebenden Georgiers ist „Schussangst“ zwar ein unaufgeregtes und eigenwilliges, stellenweise allerdings bemüht seltsames Porträt eines Zivildienstleistenden geworden, der sich anschickt mit einem Schuld-und-Sühne-Programm Rache an der gleichgültigen Welt zu nehmen. Doch anders als im gleichnamigen Roman von Dirk Kurbjuweit versteigt sich der Film nicht zum politischen Attentat, sondern begrenzt Eiserbecks Kosmos auf Zivildienst, Liebeskummer, Imponierwille und Einsamkeit. Und in den Hauptdarstellern Fabian Hinrichs und Lavinia Wilson findet er zwei kluge Darsteller, die ihre Protagonisten über alle Sinnlücken hinweg in die pure Verstörung führen.

BIRGIT GLOMBITZA

„Schussangst“, Regie: Dito Tsintsadze. Mit Axel Prahl, Fabian Hinrichs u. a. Deutschland 2003, 111 Min.