Das beste Nebeneinander

Der Schmerz des anderen und die Freude des anderen an der Berliner Schaubühne: Sasha Waltz verbindet in ihrem Tanzstück „Impromptus“ zur Klaviermusik von Franz Schubert die Sprache der Körper und der Musik aus weit entfernt liegenden Zeiten

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Mit den ersten Tönen kommt die Wende. Zwei Männer, die beiden Tänzer Xuan Shi und Juan Cruz Diaz de Garaio Esnaoloa, kippten und stürzten zuvor in der Stille auf den schrägen Bodenplatten der Bühne in einen verhaspelten und stolpernden Duktus. Rückwärts riss es sie, mit scharfkantigen, ruckartigen Bewegungen, ein kräftezehrender Kampf um eine Balance, die sich nicht herstellen ließ. Die Musik, ein Impromptu von Franz Schubert in f-Moll, nahm sie auf in einem dieser Momente, als sie zusammengeklappt und niedergesunken nicht mehr weiter zu wissen schienen. Als ob die Finger der Pianistin Cristina Marton mit dem Anschlag der weißen und schwarzen Tasten zugleich die harten Muskeln längs ihrer Wirbelsäulen berühren würde, entspannen sich die beiden Körper, richten sich auf und gehen.

So entsteht eine physische Präsenz der Musik, die aufgenommen wird im anschließenden Duett von Luc Dunberry und Michal Mualem, die weich und nachgiebig umeinander rollen, nicht ganz wach in allen Sinnen und doch stets der Wärme und der Nähe des anderen geöffnet.

In den Stücken von Sasha Waltz, Choreografin an der Schaubühne Berlin, stammten Musik und Tanz bisher fast immer aus einer Gegenwart, meistens parallel entwickelt. In „Impromptus“ mit Klavierstücken und Liedern von Franz Schubert kommt die Sprache der Körper und der Musik erstmals aus zwei weit entfernt liegenden Zeiten aufeinander zu. Für viele Choreografen ist das zwar eine gängige Praxis, aber wenn ein Ensemble diese Begegnung das erste Mal angeht, wird das scheinbar Selbstverständliche zum Thema. So wird denn auch zunächst die Differenz und Autonomie beider Kunstformen herausgestellt. Fast nie decken sich Anfang und Ende der Musikstücke und der tänzerischen Phasen, fast immer überlappen sie sich, als ob jede Form ihrem eigenen Zeitmaß folge.

„Keiner, der den Schmerz des andern, und keiner, der die Freude des andern versteht! Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander“, zitiert das Programmheft eine Tagebuchnotiz des Komponisten, der an Liebeskummer nicht minder als an der Außenseiterrolle des Künstlers litt. Dieses Bild eines Nebeneinanders, das trotz aller Nähe nie mit Sicherheit darüber urteilen lässt, ob das Verstehen des anderen nicht nur eine Projektion ist, trifft gleich mehrfach die Spannung von „Impromptus“.

Zum einen ist damit das Verhältnis zwischen den Klavierstücken von Franz Schubert und dem Hörer heute charakterisiert, der in der Musik ein reiches Feld von Emotionen, von Melancholie und Sehnsüchten, von Zaghaftigkeit und Schüchternheit, von Ernsthaftigkeit und Resignation wiederzuerkennen glaubt, die er doch erst aus eigener Erfahrung hineinträgt. Zum anderen besteht auch zwischen Tanz und Musik diese ständige Näherung in der Stimmung, ohne je ihre Identität zu behaupten.

Vor allem aber findet sich dieses Bild wieder in den tänzerischen Duetten selbst, die das Zentrum des Abends bilden. Der letzte Tanz von Xuan Shi und Claudia de Serpa Soares ist so verhalten und so erfüllt von Verschlossenheit trotz des Gleichklangs der Bewegungen, dass nur einzelne und plötzliche Aktionen unter diese Fremdheit zu dringen vermögen.

Doch während Schubert das Nebeneinander als „Qual“ und Mangel erlebte, wendet das Stück dies ins Produktive und Positive. Einmal laufen die Tänzer, umkreisen sich in lang gezogenen Bögen und laufen in die Musik hinein, als wäre diese ein Kind, das man an der Hand und mitnimmt. Aus der Musik, aus den Liedtexten, aus der tänzerischen Szene lösen sich einzelne Elemente und entwickeln sich weiter. Dem Motiv des Wanderns etwa kommen die Tänzer mit Gummistiefeln entgegen, in denen das Wasser gluckst. Sie paraphrasieren den Rhythmus des Wanderschritts in brüchigen und lustigen Bewegungen. Später, in einer Phase der Stille, rinnt das Wasser aus den Stiefeln über die Spuren farbigen Pulvers, mit denen die Tänzer ihre Körper eingerieben und damit den Bühnenboden bemalt haben. Ein Bild entsteht und zerfließt im Nachklang zweier Lieder, die den Abschied betrauerten.

Unter den Stücken von Sasha Waltz ist „Impromptus“ das erste mit einem kammermusikalischen Ton. Aber es zerfällt nicht, wie in diesem Genre oft, in eine Folge einzelner Choreografien, sondern entwickelt mit einem langen erzählerischen Atem aus den abstrakten Formen eine große, anrührende Geschichte.