Schöner fremder Mann

Vor dreißig Jahren leitete der Maler Guy Peellaert mit „Rock Dreams“ die erste Postmoderne des Rock ’n’ Roll ein. Heute wirken die Gemälde wie ein früher Versuch queerer Geschichtsschreibung

VON KLAUS WALTER

Ein Zeitungsfoto des jungen Frank Sinatra: Er wird belagert von weiblichen Teenagern. Vor den Fünfzigern und der Erfindung des Teenagers als Marktsegment und Aggregatzustand von Körper und Bewusstsein nannte man sie Bobby-Soxers. Zwei kräftige Männer und ein L.-A.-Cop schützen den Star vor dem Zugriff der Bobby Soxers und greifen dabei ihrerseits auf den Starkörper zu. Eine kräftige Männerhand mit Siegelring umfasst Sinatras Brust von hinten. Sie gehört einem Polizisten, an dessen Gürtel ein wuchtiger Schlüsselbund baumelt, etwas links von der Körpermitte. Die Schlagzeile der Zeitung: Frankie goes Hollywood. Nach diesem Bild sollte sich zehn Jahre nach Rock Dreams die schwulste aller schwulen Bands der britischen Popblüte nennen.

„Rock Dreams“ von Guy Peellaert ist ein Bilderbuch aus der ersten Postmoderne des Rock ’n’ Roll. Ausgerechnet ein belgischer Comiczeichner hat die Popgeschichte gemalt, wie sie wirklich ist: ein hitziger, schwüler Traum in Bonbonfarben, ein knatschbunter Comicstrip mit Hang zum Melodram. Vielleicht hat die splendid isolation belgischer Rock-’n’-Roll-Ferne dem Maler beim Ausmalen der Rock-’n’-Roll-Fantasies geholfen. So schuf Pellaert hyperreale Bilder, die sich für immer im kollektiven Gedächtnis all derer abgelagert haben, die 1974 schon Teenager waren:

– Bob Dylan mit Sonnenbrille, Pelzmantel und Katze im Arm im Fond einer Limousine;

– die Rolling Stones in SS-Uniformen mit kleinen Mädchen bei einer Orgie;

– die Beatles mit der Queen im Buckingham Palace bei einer Tasse Tee;

– der speckige Bill Haley im Bademantel vorm Spiegel, die Schmalztolle richtend;

– der junge Elvis in Badeshorts, auf den Knien zur Mutter Gottes betend, im Hintergrund versinkt die Sonne im Ozean.

Wie August Sander in den Zwanzigerjahren deutsche Werktätige am Arbeitsplatz fotografierte mit der später in „Was bin ich“-formatierten typischen Handbewegung, so porträtiert Peellaert seine Popstars Fake-dokumentarisch am Tatort ihrer berühmten Songs: die Drifters entspannt „Under The Boardwalk“, Otis Redding „On Dock Of The Bay“, allein und todtraurig – schließlich ist er schon tot, als der Song zum Hit wird, was wir wissen, wenn wir das Bild sehen.

Dass die Bilder nach so langer Zeit noch so vertraut sind, hat auch mit der Bilderarmut ihrer Entstehungszeit zu tun. Als Peellaert seine Ikonen malte, wurde das popkulturelle Bilderreservoir noch nicht von MTV gespeist. Die Rock Dreams standen in neu eröffneten Pop-Ramschläden wie Montanus und Zweitausendeins im selben Regal wie die Labyrinthe des M. C. Escher, Warhol-Reprints, Roger Deans Fantasy-Cover-Art und Brinkmann/Rygullas „Acid“ (das auch gerade wieder aufgelegt wird). Da war es leicht, nachhaltig zu sein. Zumal die Texte zu den Rock Dreams von Nik Cohn kamen. Cohn war damals neben Lester Bangs und Greil Marcus der einzig gültige Rock-’n’-Roll-Auteur. Sein „Awopbopaloola-alopbamboom“ galt als beste, weil hysterischste Geschichte des Rock ’n’ Roll.

Bei aller Vertrautheit: Es gibt auch den Schock des Wiedersehens. Was haben wir alles nicht gesehen damals! Schwänze! Überall Schwänze! Jeans und Badehose, Uniform und Unterhose halten den Rock-’n’-Roll-Phallus notdürftig unter Verschluss. Ständig drängt er sich auf, rückt ins Blickfeld. Und wie schön sie sind, die Rock-’n’-Roll-Jungs! Wie sie im Waschraum stehen, glatt rasiert, gut gebaut und frisch gegelt, als Phil Spector reinkommt und irritiert das Ensemble halb nackter Männerkörper mustert. Das hat man damals genauso überblättert wie die köstliche Travestie auf eine Slim-Fit-Reklame mit einem Schlagertypen, den man in der Mitte der langhaarigsten Siebziger einfach nur spießig finden konnte: „Let Paul Anka tell you how you too can be a man“, verspricht die Werbung. Sie zeigt einen effeminiert strahlenden Anka bei Dehnungsübungen im schwarzen Slip. Die Gymnastik zahlt sich aus: „Guys, be like Paul Anka, turn fatness into fitness.“ Wenn Peellaert den Beach Boys ein paar California Girls ins Bild malt, bleiben diese Randfiguren, ausgeschlossen vom inzestuösen Jungs-Bund.

Irgendwann dämmert’s: Peellaerts Penisse sind nicht intrusiv auf den weiblichen Körper gepolt. Sie sind Objekte eines schwulen Begehrens. Seine Leidenschaft gilt den clean cut babyfaces aus der Rock ’n’ Roll Highschool, den schmachtenden Pomadiers vom Schlage der Lymons, Nelsons und Avalons. Erdig-bärtige Typen wie Joe Cocker, Eric Clapton und Jimmy Page muss er gehasst haben. So wird das chronologisch aufgebaute Buch gegen Ende angenehm schlecht, wenn grotesk entstellte Waldschrate nur dank der Bildunterschrift als Cocker, Clapton & Page zu identifizieren sind.

Die Wiederauflage der „Rock Dreams“ bietet zweite Chancen: history revisited, Geschichte wiedersehen mit Augen, die inzwischen Camp und Queer gesehen haben. Tatsächlich gelingt manchmal ein queeres Rewriting von Kulturgeschichte. Wir sehen zwei Lieblinge der weißen USA beim phallischen Barbecue: Connie Francis („Schöner fremder Mann“) steht im karierten Sommerkleid am Grill, während Pat Boone mit der Grillzange eine kleine Rindswurst greift und dabei routiniert in die (imaginäre) Kamera lächelt. Über dem gelben Sweater trägt Boone eine Schürze, auf die ein Koch gemalt ist. Die spitze Kochnase befindet sich auf der Höhe von Boones Geschlecht. Dazu trägt der Koch eine Mütze, die sich in Form eines erigierten Schwanzes über den Boone-Bauch wölbt. Auf dem Grill liegt ein prächtiger Maiskolben. Ausgerechnet Pat Boone, der weiße Wallach des Rock ’n’ Roll, der eine ganze Karriere baute auf kastrierte, desexualisierte Versionen schwarzer R-&-B-Hits.

Die letzten Porträts der Rock Dreams gehen Peellaert wieder besser von der Hand. Er malt David Bowie, Lou Reed und Marc Bolan in androgynen Posen. Das Buch erschien erstmals 1973. Ein Jahr nach der ersten Platte einer Band, die auftrat wie der Fleisch gewordene Rocktraum des Guy Peellaert: Roxy Music.

Guy Peellaert & Nik Cohn: „Rock Dreams“. Taschen Verlag, Köln 2003, 24,5 x 33,5 cm, 222 Seiten, 19,90 €