Verbrechen und andere Zustände

Im Gefolge von Sjöwall/Wahlöö und Mankell: Der Markt für skandinavische Kriminalliteratur boomt. Auffallend ist dabei, wie sehr die gewohnte Gesellschaftskritik des skandinavischen Krimis um eine stark feministische Komponente erweitert worden ist

Die Mehrheit der nordischen Krimis sind Polizeiromane. Der Privatdetektiv – ein exotisches Konzept

VON KATHARINA GRANZIN

Fast drei Jahrzehnte ist es nun her, dass das schwedische Ehepaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö in „Die Terroristen“den schwedischen Ministerpräsidenten ermorden ließ. Das war 1975 – über zehn Jahre vor der Ermordung Olof Palmes – im letzten Roman ihrer Krimireihe um den Stockholmer Kriminalkommissar Martin Beck: der effektvolle Endknall einer literarischen Revolution. Im Laufe von zehn Jahren hatten Sjöwall/Wahlöö den Kriminalroman neu erfunden, das Genre endgültig von seinen schematischen Whodunit-Plots erlöst und den Detektiv von einer genialen (Er-)Löserfigur in einen modernen Helden verwandelt, der auch mal scheitern darf. Vor allem aber hatten sie den Krimi als Plattform für gesellschaftskritische Reflexionen etabliert und ein bis heute stilbildendes Paradigma geschaffen.

AutorInnen aus den nordischen Ländern wurden lange am fast zur Marke geronnenen Vorbild Sjöwall/Wahlöö gemessen. Insbesondere Henning Mankell wurde als Nachfolger des legendären Autorenduos gefeiert, wahrscheinlich weil man Kommissar Wallanders notorisches Räsonieren über den endgültigen Zerfall von Sitten und Moral gern als Gesellschaftskritik missversteht. Angesichts der grausigen Massaker, die in Mankells Krimi-Schweden am laufenden Band passieren, mag Wallanders kulturpessimistische Einstellung ihre Berechtigung haben, bekommt jedoch, wenn man sie an der wirklichen Welt misst, einen seltsamen Beigeschmack. Während die Sjöwall/Wahlöö’-sche Endzeitstimmung ein quasi natürliches Echo auf die alarmistische Stimmung der Siebzigerjahre war, wirkt dieselbe Haltung bei Mankell eher paranoid.

Doch wo es große Vorbilder gibt, sind auch viele Epigonen. Die Dänin Gretelise Holm, die ihren ersten Krimi als Auftragsarbeit schrieb, erzählt in einem Interview, ihr Verlag sei mit der Bitte an sie herangetreten, einen Frauenkrimi zu schreiben. Die Idee war, „einen Krimi und einen sozialkritischen Gegenwartsroman in einem Buch zusammenzubringen“: das Sjöwall/Wahlöö-Konzept als Erfolgsformel.

Ein willkürlicher Querschnitt durch die hierzulande aktuellen Titel bestätigt, dass in der Tat viele nordische Krimis auf Varianten dieser Formel basieren. Die überwältigende Mehrheit der AutorInnen – ob nun die Schweden Mankell, Nesser, Edwardson, die Norwegerinnen Holt und Lindell oder die Finnin Lehtolainen – schreibt zudem reine Polizeiromane. Der Privatdetektiv – ein exotisches Konzept. Bei aller Gesellschaftskritik zeigt sich hierin auch ein ausgeprägtes skandinavisches Vertrauensverhältnis zum Staat und seinen Institutionen.

Als wohl wichtigste neue Entwicklung seit Sjöwall/Wahlöö ist festzustellen, dass die gesellschaftskritische Komponente des nordischen Krimis um eine starke feministische Tendenz erweitert worden ist. Typischerweise werden solche Krimis von Frauen geschrieben und häufig „Frauenkrimi“ genannt. Doch dieses Label sollte für jene Bücher reserviert bleiben, die eindeutig eine weibliche Leserschaft im Auge haben.

Wenn es allerdings gälte, ein Musterbeispiel für den „Frauenkrimi“ schlechthin zu benennen, wäre die Finnin Leena Lehtolainen mit ihren Romanen um die Polizeihauptmeisterin Maria Kallio eine gute Kandidatin. Denn kein männlicher Durchschnittsleser würde wohl gern mit einem Lehtolainen-Roman in der Öffentlichkeit gesehen werden wollen. Im Roman „Die Todesspirale“, worin eine Eiskunstläuferin mit ihren eigenen Schlittschuhen erschlagen wird, geht Kallio hochschwanger mit Verdächtigen in den Bodycheck. Fachsimpeleien über doppelten Toeloop und Biellmann-Pirouette wechseln ab mit großzügigen Informationen über die Vorgänge in Marias Siebenmonatsbauch. Eingebettet in eine spannende, konventionelle Krimihandlung, ist das alles gut zu lesen, aber von einem seltsam trutschigen Feminismus, wie er wohl nur in einem so fortschrittlichen Land wie Finnland möglich ist.

Die Schwedin Liza Marklund schreibt dichter an der Zeit und ist nicht so einfach mit einem bestimmten Label zu versehen. Zumal ihre Heldin Annika Bengtzon nicht Polizistin, sondern Reporterin ist, was den idealen Rahmen bietet, für jeden Roman ein anderes gesellschaftliches Phänomen aufzugreifen. In Marklunds letzten Romanen „Paradies“ und „Prime Time“ sind es die Jugoslawenmafia und die zynische Mediengesellschaft, mit denen Bengtzon aneinander gerät. Marklund, selbst gelernte Journalistin, schreibt mitreißend flott. Die Kunst der Andeutung ist jedoch nicht ihre Sache, weshalb ihr Anliegen oft in Gefahr gerät, im Überexpliziten zu ertrinken. Das gilt auch für ihren gut gemeinten Feminismus: Wie Bengtzon sich abstrampeln muss, um ihrer Mehrfachbelastung als Mutter und engagierte Reporterin zu genügen, will frau oft gar nicht so genau wissen.

Ganz anders dagegen Norwegens ehemalige Justizministerin Anne Holt. Sie verzichtet in ihren Krimis auf jede explizite Anmerkung zur wirklichen Welt und verlegt den Offtext lieber in die Versuchsanordnung ihrer Figuren. Ihre Heldin, die Kommissarin Hanne Wilhelmsen, ist lesbisch, hat eine türkische Lebensgefährtin und lebt zusammen mit dieser und einer ehemaligen Straßenhure als Haushälterin in einer Wohnung. Ein Kollege von Hanne hat fünf Kinder mit fünf verschiedenen Frauen – tatsächlich ist Norwegen das europäische Land mit dem höchsten Anteil an Alleinerziehenden. Holts Kriminalfälle sind eher traditionelle Whodunits. In ihrem neuesten Roman „Die Wahrheit dahinter“ geschieht ein spektakulärer Vierfachmord in einem von Oslos besseren Wohnvierteln. Die Polizei, unorganisiert und überlastet, ist nicht in der Lage, in alle Richtungen auf einmal zu ermitteln, zumal das Ganze eindeutig nach einem Familiendrama aussieht. Einzig Hanne Wilhelmsen verfolgt die richtige Spur und beweist damit ihre überragende Intuition, die sie zu einer makellosen Reinkarnation des nie versagenden genialen Detektivs macht. Auch hierin zeigt sich die Treue zur Konvention, doch schreibt Holt humorvoll und atmosphärisch dicht.

Ein musterhaftes Negativbeispiel dafür, wie sehr der Feminismus im nordischen Krimi Schule macht – und dafür, dass es mehr braucht, als ihn mit etwas Sozialkritik und Verbrechen zusammenzurühren –, hat der Schwede Theodor Kallifatides mit „Der sechste Passagier“ vorgelegt. Hier steht mit der Kommissarin Kristina Vendel eine Frau im Mittelpunkt, deren frustrierendes Privatleben als Geschiedene ausführlich erläutert wird. Zudem geht es um wirklich Ernstes: Organhandel. Doch weder gewinnt die Story an Schärfe noch die Figuren an Kontur.

Es mag ja ehrenwert sein, wenn ein Mann feministische Krimis schreibt, doch hinter diesem missglückten Versuch steckt zu viel Kalkül. Immerhin sind die meisten KrimikonsumentInnen Frauen. Aber auch die lesen doch lieber einen ehrlichen Männerkrimi wie etwa den Agententhriller „Die guten Schwestern“ des Dänen Leif Davidsen. Darin verstrickt sich ein harmloser Kopenhagener Geschichtsdozent in finstere internationale Machenschaften zwischen alten Nazis und neuen Kriegsverbrechern. Da zwischendurch viel Politik erklärt wird, liest sich das Ganze etwas langatmig, wirkt aber insgesamt liebenswert anachronistisch und in der aktuellen Krimilandschaft wie ein Solitär.

Dass es möglich ist, das Erbe von Sjöwall und Wahlöö anzutreten, ohne ins Epigonale zu verfallen, beweist der schwedische Literaturkritiker Jan Arnald unter dem Krimischreiber-Pseudonym Arne Dahl. Auf zehn Bände sei seine Reihe über eine Elite-Ermittlertruppe des Stockholmer Reichskriminalamtes angelegt, lässt er selbstbewusst wissen. Davon ist mit „Falsche Opfer“ soeben der dritte in deutscher Übersetzung erschienen. Was Dahl macht, grenzt an literarisches Harakiri. Ganz offen imitiert er das Sjöwall/Wahlöö’sche Erfolgskonzept. Alles ist da: kantige, verschrobene, eindrucksvolle Ermittlerpersönlichkeiten. Viele Polizeiinterna, ausführlichste Lagebesprechungen. Ein bisschen Liebe. Wunderbare Dialoge. Und der große Kampf gegen die Feinde der Gesellschaft. Hier: Neonazis, Kinderschänder, Mafia. Doch auch der Verbrecher ist nicht nur Täter, sondern immer auch Opfer der Umstände. Das Verrückte nun ist: Es funktioniert. Dahls Figuren leben. Mehr noch, man gewinnt tatsächlich den Eindruck, dass diese Romane eine Art Zustandsbeschreibung des zeitgenössischen Schweden darstellen, dargeboten in einem sehr eigenen, lakonisch-eleganten, ironischen Stil.

Ganz anders, doch nicht weniger grandios die psychologischen Kriminalromane der Norwegerin Karin Fossum. Mit ihrem genau beobachtenden Realismus passen sie ins Bild, doch Fossum schreibt keine „Polizeiromane“, wenngleich auch sie mit ihrem Kommissar Konrad Sejer eine polizeiliche Ermittlerfigur eingeführt hat. Der aber hält sich vornehm im Hintergrund und löst seine Fälle so, wie Fossum schreibt: Er will die Menschen verstehen, mit denen er zu tun hat. Dieses Bestreben wird im aktuellen Fossum-Roman „Schwarze Sekunden“ auf eine harte Probe gestellt, denn der Hauptverdächtige ist ein scheinbar sprachloser Autist. Ein Mädchen ist verschwunden, und alle Spuren scheinen in seine Richtung zu führen. Fossum hält ihre Leser unter Spannung: Einerseits schafft sie es, echtes Mit-Leiden mit ihren Figuren hervorzurufen, die hilf- und hoffnungslos auf Nachrichten warten. Andererseits lässt sie uns vage ahnen, wie es gewesen sein könnte. Auch wenn diese Ahnungen letztlich nicht trügen, wird man von einer letzten überraschenden Wendung wieder kalt erwischt – fortgetragen vom nur scheinbar sanften Fluss der Erzählung. Fossum darf sie sich wirklich leisten, die Grußgeste an die Paten: Kommissar Sejer hat einen alten Hund mit Namen Kollberg. So hieß der beste Freund von Sjöwall/Wahlöös Kommissar Beck.

Leena Lehtolainens „Die Todesspirale“ (übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara) gibt es als Rowohlt TB, Liza Marklunds „Prime Time“ (aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann) bei Hoffmann und Campe. Die von Gabriele Haefs übersetzten Krimis von Anne Holt und Karin Fossum sind im Piper Verlag erschienen, ebenso wie die Arne Dahls (aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt); Theodor Kallifatides’ „Der sechste Passagier“ (übersetzt von Kristina Maidt-Zinke) und Leif Davidsens „Die guten Schwestern“ (übersetzt von Peter Urban-Halle) erscheinen bei Zsolnay