Das Schöne kehrt zurück

Modefotografie spiegelt Realität und kreiert sie. Fünf Variationen über den Zeitgeist

VON NADINE BARTH

VORN. Hamburg, Lange Reihe. Nasser Asphalt. Das Schwarz der Nacht strahlt durch die Fenster. Joachim Baldauf trinkt an seinem Bier. Die Bar ist fast leer. Hinten im Hof hat Baldauf sein Studio. Davor ein kleiner Garten, Holzplanken, Efeu. Eine Zelle der Kreativität. Hier entsteht Vorn. Das Heft für freie Gestaltung. Baldauf ist stolz darauf. Er hat den Anstoß gegeben. Hat Freunde angerufen, bekannte Artdirectors, hat Fotografen beauftragt, nach Künstlern geforscht, hat allen alle Freiheit gegeben, die sie wollten. 250 Seiten wilde Bilderwelten, Fotostrecken, Textschnipsel.

Die erste Ausgabe erschien im Januar zum Preis von 18 Euro, die zweite ist gerade im Druck. Das Interessante: keine Anzeigen. Dafür „Advertorials“, freie Editorials, eigene Geschichten, bezahlt von Anzeigenkunden, die keinen Einfluss auf die Umsetzung hatten. Die Leute konnten alles machen, sagt er, in jeder Länge. Anarchie. Er, Baldauf, habe der Anarchie nur einen Zusammenhalt gegeben. Eine Loseblattsammlung lasse sich halt nicht so gut auf den Markt bringen. Dann bist du der Spießer unter den Anarchisten, sage ich. Baldauf lacht. Ja, so kann man es sagen. Wusstest du, dass man in neunzig Ländern keine Brüste auf dem Cover zeigen darf? In Amerika wird Vorn nur über Buchläden vertrieben. In Europas Hauptstädten liegt es in Trendläden.

Ich blättere durch das Heft. Bleibe an den Fotos eines nackten Mannes hängen. Wir diskutieren den Winkel. Wie erigiert ist erlaubt? Wann ist so etwas Pornografie? Der Fotograf der Bilder ist Andreas H. Bitesnich. Längst geadelt von der Kunstwelt, hoch gehandelt auf dem internationalen Markt. Bei den Lead Awards bekam Vorn dieses Jahr gleich mehrere Preise. Einen für die beste Modestrecke in einem Magazin. Wann ist Mode Kunst? Ist Vorn Kunst? Baldauf ist verlegen. Das ist ein großes Wort, sagt er. Ich wollte nur inspirieren.

VINTAGE. Ein Bild ist ein Bild, wenn es auf etwas verweist. So sah es jedenfalls Platon. Sein griechisches eikon hatte einen starken Bezugscharakter: Als natürliches Bild, Spiegel- oder Schattenbild, führte es bei genauerer Betrachtung zur wirklichen Welt oder zumindest zu der, die man dafür hielt. Die künstlichen Bilder, die von Handwerkern/ Künstlern hergestellt wurden, verwiesen auf deren Vorstellungsbilder beim Fertigungsprozess. Seit der Erfindung der Fotografie gibt es Bilder genau an der Schnittstelle von natürlichem und künstlichem Bild. Sie sind Spiegel der Wirklichkeit und verweisen doch auf eine kreative Leistung des Fotografen, der Motiv, Ausschnitt, Licht, Schärfe et cetera festgelegt hat.

Zunächst als „Teufelswerk“ verschrien, haftet der Fotografie selbst nach ihrer generellen Akzeptanz immer noch der Ruch der reinen Abbildhaftigkeit („Mimikry“) an. Und was nur abbildet, kann nicht Kunst sein. Erst als Künstler sich der Fotografie annahmen, verschoben sich die Relationen. Natürlich hängen Fotowerke heute im Museum, geben Sammler ein Vermögen für Vintageprints aus, werden Abzüge ganz selbstverständlich vom Fotografen signiert.

Und: Es gibt Editionen. Damit wird zumindest ein Teil der Aura, deren Verlust im Zeitalter der Reproduzierbarkeit schon Walter Benjamin beklagte, wieder durch die Hintertür eingeschleust. Dass es statt eines dann drei oder fünf „Originale“ gibt, stört nicht weiter. Der Vermerk, „1/5“, das erste von fünf, zu besitzen, einen Print vielleicht, den der Fotograf selbst in der Dunkelkammer hergestellt hat (empfindliche Emulsion des Fotopapiers gleich empfindliche Seele des Fotokünstlers), das macht den Sammler glücklich. Selbst Copy-Prints, Jahre später gemachte „genehmigte“ Abzüge, können Traumpreise erzielen – etwa ein Abzug, der 1971 von Man Rays berühmtestem Foto, „Le violon d’Ingres“ angefertigt wurde und bei Christie’s für hunderttausend Dollar zugeschlagen wurde.

Die Modefotografie hat zwei gravierende Probleme: Als Auftragsfotografie entspricht sie nicht dem romantischen Ideal vom frei schöpferischen Geist, und ihr Verweischarakter hat etwas im höchsten Maße Unstetes: Ihr Signifikat ist der Zeitgeist. Und der ist bekanntermaßen flüchtig. Ein Überblick über diese flüchtige Kunst gibt gerade das Museum of Modern Art in New York: „Fashioning Fiction in Photography since 1990“ (noch bis zum 28. Juni).

VISION. Ein Gespräch mit Prof. F. C. Gundlach, Fotograf, Sammler und Leiter des neuen Hauses der Photographie in Hamburg.

taz.mag: Ihre Sammlung, von der die Ausstellung „A Clear Vision“ einen ersten Vorgeschmack gab, besteht aus zirka 12.000 Exponaten. Wie viele davon, schätzen Sie, sind Modefotos?

F. C. Gundlach: Ungefähr fünfzig Prozent. Dabei ist für mich Modefotografie auch Menschenfotografie. Zum Beispiel gibt es dieses Foto von Margaret Bourke-White, das auch ein Life-Titelbild war: Es zeigt die Wallstreet, zirka fünfhundert Männer kommen aus der Börse, 98 Prozent davon haben einen Hut auf. Das ist für mich eine Manifestation von Mode. Heute wäre das Verhältnis genau umgekehrt. Kein Genre der Fotografie ist so mit der jeweiligen Zeit verbunden wie die Modefotografie.

Kann Modefotografie Kunst sein?

Natürlich. Die Modefotografie profitiert von der größeren Wertschätzung, die der Fotografie im Allgemeinen zuteil geworden ist. Das alte Kunstverständnis, dass Dinge, die einen wirtschaftlichen Hintergrund haben, keine Kunst sein können, gibt es nicht mehr. Dennoch werden eher die starken Bilder überleben, die außerhalb ihres Entstehungskontextes als Bild überzeugen und dann auch eine Berechtigung haben, im Markt zu bestehen.

Was sagen Sie zu den neuen deutschen Magazinen wie Squint, Sleek, Deutsch, Achtung oder Zoo, die ganz auf Modefotografie setzen?

Endlich! In England ist das schon lange so. Die haben einen Vorlauf von zehn Jahren. Magazine wie ID oder Dazed & Confused haben da viel bewirkt. Eine Inszenierung, wo die Mode nur sekundär ist, reflektiert ein ganz bestimmtes Lebensgefühl, einen Zeitgeist. Was Modefotografie anbietet, sind Identifikationsangebote, und wenn das angenommen wird, dann wird es zur Mode. Das fing mit den Hippies an. Die wollten einen Lebensstil zeigen. Ein Wunschtraum, eine Vision, die die Menschen in ihren Blümchenkleidern transportieren wollten.

Sie haben selbst lange für Brigitte gearbeitet.

Der Erfolg der Brigitte lag darin, dass sie ein neues Frauenbild geprägt hat. Nicht mehr wie nach dem Krieg musste die Frau den Mann substituieren, die spröde Uniformität wich einer neuen Feminität. Viel mehr Menschen konnten an der Mode teilhaben, weil sie erschwinglich wurde. Heute geht der Trend wieder zur klassischen Darstellung. Das Abbild von Mode wird wieder wichtiger. Das Schöne kehrt zurück.

VOGUE. Die Vogue ist der Olymp der Modefotografie. In allen Ländern. Mit unterschiedlichen Tendenzen. Die französische Vogue: traditionell, bedeutend, über den Wolken. Die italienische Vogue: Avantgarde, seit Anbeginn, für Fotografen und Models eine experimentelle Spielwiese. Die amerikanische Vogue: das Gesetz, der Ritterschlag, die Intrigenhochburg. Kaum verschlüsselt fand Anna Wintour, seit Jahren Chefredakteurin mit bekannten Extravaganzen, Eingang in den Roman „The Devil Wears Prada“ („Der Teufel trägt Prada“, ab Juni bei Goldmann), den die Fashiongemeinde mit spöttischem Vergnügen verschlang. Auch Deutschland hat seine Vogue, wie Australien, Russland, Griechenland, Spanien, sogar Taiwan.

Was in Vogue ist, ist Trend. In allen Ländern. Und wer für die Vogue arbeitet, der ist wer. Oder wird wer. Erwin Blumenfeld fotografierte schon in den Vierzigerjahren Vogue-Cover. Helmut Newton, Peter Lindbergh, Bruce Weber, David La Chapelle, Ellen von Unwerth: alles Vogue-Fotografen. Der Minirock, der Afrolook, die Punkbewegung, die neue Eleganz, alles wurde dokumentiert, inszeniert, überhöht zum Modebild, das für sich steht, sinnbildlich für die Generation, aus der es erwuchs. Die obszönen Close-ups von Guy Bourdin, der Heroinchic von Jürgen Teller, die Skandalfotos von Terry Richardson.

Die Vogue kam und kommt oft an ihre Grenzen, schließlich finanziert sie sich zum großen Teil durch Anzeigen. Ein sanftes Grenzeneinreißen hat allerdings Tradition. Die Freiheit der Vogue: Es ist eine Freiheit der Professionalität. Eine Freiheit, die Visionen überhaupt erst ermöglicht. Eine Freiheit, geleitet und überwacht dennoch von den „Modeproduzenten“, in der Regel angestellten RedakteurInnen.

Die bekannteste erfuhr kürzlich eine fette Hommage: Grace Coddington, achtzehn Jahre Moderedakteurin bei der britischen Vogue, zwölf Jahre Creative Director bei der amerikanischen. Der 400 Seiten starke Prachtband heißt schlicht „Grace. 30 Years of Fashion at Vogue“ (Göttingen 2002, Steidl, 128 Euro). Ob mit Guy, Bruce oder Ellen, ob in Ägypten, Paris oder auf den Malediven, Mode unter den Augen von Grace wird zum Ausflug ins Land seltsamer Fantasien oder skurriler Momente. Dass lediglich eine Ware angepriesen wird, die sich kaum einer leisten kann, geht in der Flut des schönen Scheins unter, und das macht auch nichts. Es geht darum, das Tor aufzustoßen zur eigenen Gedankenwelt. Träume mit Allüre. Before it’s in fashion it’s in Vogue.

VIAUX. Bässe wummern auf die Straße, wieder Lange Reihe, Hamburg. Menschen dicht an dicht. Models, Fotografen, Werber, Schreiber. Dazwischen Kunstmäzene auf der Suche nach dem Trend. Viaux ist die erste deutsche Galerie nur für Modefotografie, zudem ein Gesamtkonzept von Shop und Partyraum, das mit allen Regeln der Galerietradition bricht. Kein helles Licht, das Gesichter fahl ausschauen lässt, kein Weißweingeschlürfe, kein „Von 19 bis 21 Uhr und dann tschüß“, sondern die Vernissagen als sorgsam durchgestylte Events, bei denen Drinks und Food farblich und inhaltlich zu den Fotos passen.

Hier schließt sich der Kreis. „Searching for Fashion in Vorn“ hieß ironisch die letzte Viaux-Ausstellung, bei der schwarz umrahmte Leuchtkästen vor schwarzer Wand das Beste (und keine Mode) aus dem Heft für freie Gestaltung strahlen ließen, dazu wurden Jack Daniel’s Black Label, Kaviar und Lakritzschnecken gereicht. Nach diesem Inbegriff der Credibility (schließlich hing auch Bitesnich dort) griff Viaux nach den Sternen: Die Vogue musste her. Mit Fotos von Indlekofer + Knoepfel.

Das Schweizer Fotografenpaar verführt auf subtile Weise mit Stylezitaten von Romy Schneider bis Hitchcocks Marnie. Stefan Indlekofer und Claudia Knoepfel arbeiten mit zwei Kameras – männlicher Blick, weiblicher Blick, ein Spiel mit Sichtweisen. Die beiden waren es, die beim Lead Award für die beste Modestrecke ausgezeichnet wurden. In Vorn. Mit Bildern, die der klassischen Modefotografie nicht unbedingt entsprechen. Ein Paar in der Hitze des Tages, am Elbstrand, mit Kinderspielzeug, alles in blassem, unheimlichem Licht, es ist heiß und anstrengend, „Hundstage“ eben, und am Ende liegt das Mädchen wie tot mit dem Gesicht im Sand (noch bis 13. Mai; www.viaux.com).

Alles ist Mode, sagt die Galeristin Natalie Viaux und verweist auf den Beuys’schen Kunstbegriff. Alles entsteht im Auge des Betrachters. Ausdruck, Haltung, Leben. Deutschlands erste Galerie für Modefotografie setzt von vornherein auf die Kooperation mit Magazinen. Interessanterweise entspricht eine „Modestrecke“ der Vorliebe des Kunstmarkts für Serien. Ich will die Strecken groß zeigen, während sie am Kiosk zu kaufen sind, sagt Natalie Viaux, Ex-MTV-Redakteurin und freie Regisseurin. Ich will den Zeitgeist bannen. Bildern, bevor sie aus unserem Gedächtnis verschwinden, eine Chance geben. Insignien der Beständigkeit. Mode ist, was uns umgibt, was wir fühlen, wie wir sind. Modefotografie, wenn sie gut ist, kann das abbilden. Und dann ist sie auch Kunst.

NADINE BARTH, 39, ist stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift Amica