Körper, klick, Ich, klick

Mal gewissenhaft zeitnah, mal kalkuliert verschraubt: „Solarplexus“ und „Der zärtlichste Punkt im All“, die neuen Gedichtbände von Albert Ostermaier und Silke Scheuermann

VON NICOLAI KUBUS

Solarplexus: ein Nervengewebe unter der Haut, knapp oberhalb der Eingeweide. Der Punkt, an dem Männer gelegentlich gezielte Schläge einstecken müssen. Sie gehen zu Boden, aber meistens stehen sie auch wieder auf. Sie betrinken sich dann allein in einer Bar, bis der Schmerz nachlässt – oder sie schreiben ein Gedicht: „irgendwann wird alles gut / und du schnappst nicht / beim aufstehen nach luft / als müssten im nächsten / moment sauerstoffmasken / von der decke fallen ein / tag der nicht wie eine / feuerübung beginnt …“ Wir kennen den Ton, in dem dieses Ich hier mit sich selber spricht, seit Wondratschek. Damals begann der Tag noch mit einer Schusswunde. Dieses Ich ist männlich, aber empfindsam, es ist unbehaust, großstädtisch, sehnsüchtig. Es sucht nach Orientierung und Gründen, weiß aber, dass es beides nicht gibt.

Albert Ostermaier hat dieses Ich und seinen Ton im mittlerweile fünften Gedichtband kultiviert. „Bewegungsmelder“ heißt der erste Zyklus von „Solarplexus“. Drei Texte, drei Stimmen, vom BR bereits als Hörspiel produziert. Bewegungen, Begegnungen, Verluste, aber keine Verortungen. Vielleicht daher die Formlosigkeit der Texte. Ein Großteil dieses Bandes besteht aus Langgedichten. Erzählend, assoziativ, schwach konturiert. Die Zeilenumbrüche erscheinen oft unmotiviert. Gelegentlich stellt sich semantischer Zugewinn ein, Akzentverschiebungen. Es sind Monologe, die sich auch im Fließtext hätten lesen lassen. Die beigelegte CD legt nahe, dass es sich gar nicht um Gedichte handelt, sondern um montierte Stimmen eines Hörstücks, die ihre je eigene Geschichte erzählen, bis sie am Ende buchstäblich mit den Händen ineinander greifen.

Die übrigen Abteilungen kommen der Lyrik näher: einige Liebes- und Körpergedichte und die an sich schöne Idee einer Serie auf das Personal aus Shakespeares „Was ihr wollt“. Nur leider stolpert hier der ausgestellte Endreim regelmäßig über eine vernachlässigte Metrik: „mein herz ist eine kugel und sie glüht in mir / wie die sonne bevor sie untergeht nur wofür“. Besser funktioniert der Reim, wenn er die Versfüße einfach gehen lässt, wie in „frontlines“, einem Rap über das Töten in Zeiten des Präventivschlags aus dem für Ostermaier mittlerweile obligatorischen USA-Kapitel: „den nächsten erschlagen / nur ein akt der humanität / mein wort keinerlei plagen / eine frage der mentalität“. Die amerikanischen Bilder schwanken zwischen seismografischer Aufzeichnung und Filmklischee. Dass sie am Zeitnerv zum Trocknen aufgehängt wurden, zeigen Signalwörter wie „Plastiksprengstoff“, „Blackbox“, „Koransuren“ und „Afghanistan“. Gewissenhaft mitgeschrieben, aber: So what?

Sozusagen komplementär zu Ostermaier erscheint im selben Verlag der zweite Gedichtband von Silke Scheuermann. Nach ihrem viel gelobten Erstling, „Der Tag, an dem die Möwen zweistimmig sangen“, nun ein schmales Buch mit gut drei Dutzend Gedichten, die so zart und hingehaucht sind, dass man sich kaum traut, sie gröber anzufassen, sie laut zu lesen oder gar ein wenig auseinander zu nehmen. Tut man es dennoch, wird schnell klar, dass etwa die titelgebenden Zeilen vom „womoglich zärtlichsten / Punkt im All“ (die Erde ist gemeint) nicht nur ziemlicher Quatsch sind, sondern an noch größeren Quatsch wie „die wahrscheinlich längste Praline der Welt“ erinnern – diese Zeilen sind kalkuliert verschraubt wie ein handelsüblicher Werbetext.

Meist ausgreifende Überschriften versprechen, was das Gedicht beinahe mutwillig nicht einlöst: „Reisen im Cyberspace oder Wenn eine der fünf Theorien unser Universum beschreibt Wer lebt dann in den vier anderen“. Gute Frage, die sich aber mit ein paar Mausklicks kaum beantworten lässt: „Und da ich immer schon gerne klick aus meinem Körper / gekrochen in den größeren klick Zusammenhang klick // quasi gefallen praktisch geworfen worden bin …“ Auch Scheuermann schreibt vorzugsweise Liebesgedichte und Artverwandtes, Wahrnehmungsnotate, Befindlichkeitsstudien, ein paar surreale Verfremdungen („zufriedene Vasen“, die „an Wänden lehnen“), mythologische Sujets (Medusa mitsamt Frisör; Arachne als Bezugsgröße in den Verstrickungen einer banalen Zweierbeziehung) und literarische Anspielungen: Ingeborg Bachmanns „Landnahme“ wird zur „Wunderlandnahme“, im Zuge deren auch Alice ins „Herz der Finsternis“ reisen darf. Das ist über die Textgrenzen hinaus originell vernetzt, bleibt aber ein bloßes Versprechen. Statt es einzulösen, immer wieder die Suggestion, die Texte seien staunend geschrieben: „Oh sage ich“ –wenn man bloß wüsste: staunen worüber?

Vielleicht ist ja der Solarplexus der zärtlichste Punkt im All. Bei beiden Bänden beschleicht einen der Verdacht des professionellen Poetry-Posings. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es nicht so langweilig wäre.

Albert Ostermaier: „Solarplexus“. 140 Seiten mit CD, 20,80 Euro; Silke Scheuermann: „Der zärtlichste Punkt im All“. 72 Seiten, 16,90 Euro. Beide bei Suhrkamp, Frankfurt/M. 2004