„Lalülala, das ist wie ein Ruf“

Eva-Maria Scharlippe

„Direkt an der U-Bahn zu wohnen war schrecklich. Heute fällt nur noch auf, wenn keine fährt. Oder die Kreuzberger Nationalhymne: Lalülala. Mittlerweile kann ich sagen, ob Polizei, Zivi, Wanne oder Feuerwehr draußen vorbeifährt“

Nicht nur als Drogenoma ist Eva-Maria Scharlippe (66) am Kottbusser Tor bekannt wie ein bunter Hund. Seit Hausbesetzerzeiten Anfang der 80er-Jahre hat die alte Dame, die Mutter, Groß- und Urgroßmutter ist und lange für die SPD in der BVV saß, bei keiner Demo und Straßenschlacht gefehlt. Weil sie sich für Kreuzberg verantwortlich fühlt, hat sie sich die Hacken abgelaufen, Steinen, Tränengas und Polizeirambos getrotzt. Diesmal allerdings wird Frau Scharlippe am 1. Mai zum ersten Mal nicht dabei sein. Sie hat ein Bein verloren. Die Amputation ist aber nicht der Hinderungsgrund: Die Prothese ist schwer und sitzt schlecht. Eine bessere ist bestellt, lässt aber auf sich warten

INTERVIEW PLUTONIA PLARRE

taz: Frau Scharlippe, vor drei Monaten haben Sie ihren linken Unterschenkel eingebüßt. Wie geht es Ihnen?

Eva-Maria Scharlippe: Es könnte besser sein. Der Stumpf verheilt gut. Mit der schweren Prothese komme ich aber überhaupt nicht zurecht.

Das Bein war nicht zu retten?

Nee. Ich habe Zucker und Übergewicht. Mein linker Fuß wurde immer schiefer. Um ihn zu begradigen, ist mir ein Nagel reingehauen worden. Den hat mein Körper nicht angenommen. Ich kriegte eine Blutvergiftung. Silvester hab ich dann erfahren, dass das Bein ab muss.

Wie kommt man mit so einer Nachricht klar?

Ich war geschockt. Die Wartezeit bis zur Amputation war furchtbar. Nachher ging es besser, als ich dachte. Aber solche Situationen wie im Krankenhaus, wo ich ein paar mal nachts, als ich aufstehen wollte, um aufs Klo zu gehen, auf die Nase gefallen bin, gibt’s bis heute: Plötzlich fällt mir ein, haste ja gar nicht mehr. Ohne meine drei erwachsenen Kinder – Mama du schaffst das, wir brauchen dich – hätte ich das wohl nicht so gut verkraftet. Eigentlich habe ich vier Kinder. Aber mein Ältester lebt nicht mehr.

Was ist geschehen?

Michael hat sich 2002 das Leben genommen. Er ist 43 Jahre alt geworden und war schwer depressiv. Das war für mich ein furchtbarer Schicksalsschlag. Ein Bein zu verlieren ist nichts dagegen.

Wie geht es nun weiter mit Ihnen?

Bald kriege ich eine neue Prothese. Sie ist wunderbar.

Wird sie bis zum 1. Mai fertig?

Das glaube ich nicht. Es wird das erste Mal sein, dass ich nicht dabei bin. Seit Hausbesetzerzeiten Anfang der 80er-Jahre bin ich bei den Kreuzberger Demos immer mit, nicht nur am 1. Mai.

Dann haben Sie ja viele Straßenschlachten erlebt.

Das kann man wohl sagen. Mein Gott, was bin ich gelaufen. Was habe ich wegen Tränengas geheult.

Wie lautet Ihr Rezept dagegen?

Auf dem Balkon meiner Wohnung im Neuen Kreuzberger Zentrum, 6. Stock, Blick auf den Kotti, hatte ich immer eine Schüssel Wasser stehen, damit sich meine Kinder – Mama, Straßenschlacht gucken ist besser als Fernsehen – die Augen auswaschen konnten. Wenn es ganz schlimm wurde, haben wir uns Zitronensaft und Zahnpasta ins Gesicht geschmiert. Aber mich hat es nie lange oben gehalten.

Was zieht eine ältere Dame zur Randale?

Ich war 14 Jahre SPD-Bezirksverordnete von Kreuzberg und musste gucken, was in meinem Kiez geschieht. Das habe ich auch beibehalten, als ich 1999 aus der BVV ausgeschieden bin. Als Bürgerin fühle ich mich für meinen Bezirk verantwortlich. Ich muss mir selbst ein Bild machen. Bei Erzählungen weiß man nie, was stimmt.

Die meisten Kreuzberger sind die ewigen 1.-Mai-Krawalle leid. Geht es Ihnen auch so?

Schön ist das nicht. Aber die Jugend reagiert nun mal anders. Als älterer Mensch fragt man: Warum, wieso, weshalb? Als Jugendlicher sagt man: Das ist so. Die sehen nur ihren Zorn.

Zorn worauf?

Gucken Sie sich doch mal die Migrantenkinder an, wie da oben auf den brennenden Autos stehen und sich darstellen. Was haben die denn sonst im Leben? Wo haben die eine Perspektive oder einen Erfolg? Wo? Lehre gibt’s nicht. Mal im Laden helfen, das ist alles. Denen schwimmt doch alles weg.

Sie verstehen, dass sich die Kids am 1. Mai austoben?

Die haben Langeweile. Und wenn die Polizei dann durch die Straßen orgelt, lalülala, ist das wie ein Ruf: Wir sind da. Kommt alle runter. Hier ist wieder was los. Mit den Medien ist das genauso. Jedes Jahr vor dem 1. Mai werden die Krawalle durch Reißerartikel doch erst richtig angestachelt.

Was könnte man tun?

Der Versuch des Bezirksamts, die Bevölkerung einzubinden, ist schon richtig. Aber man muss auch die Jugendlichen begleiten. Wie viele Eltern kümmern sich nicht um ihre Kinder.

Wie haben Sie es mit ihren eigenen Kindern gehalten?

Den Großen habe ich früher verboten runterzugehen, wenn Randale sind. Bei Markus, meinem Jüngsten, dem Nachzügler, bin ich immer mit. Bei dem ist mir klargeworden: 14-Jährige kann man nicht zu Hause anbinden, wenn unten Krawalle sind. Einem Polizisten, der ihn in den Schwitzkasten genommen hat, bin ich mal fast an die Gurgel.

Was haben Sie für ein Bild von der Polizei?

Das bessert sich allmählich. Die versuchen jetzt, anders mit den Leuten umzugehen. Lange Zeit war ich auf die ziemlich giftig. Unter der CDU wurden die ja richtig aufgeheitzt. Da gab es zum Bespiel mal diese Polizeispezialtruppe …

Sie meinen die berüchtigte Einsatzbereitschaft für besondere Lagen und Training (EbLT)?

Genau. Die hatten riesige Holzknüppel. In einem Hof, in den ich vor dem Wasserwerfer geflüchtet bin, habe ich mal gesehen, wie ein Polizist so auf einen alten Mann eingedroschen hat, dass sein Knüppel kaputt gegangen ist. Ich habe Dinge erlebt, grausam.

Sie sprechen von Polizeiübergriffen?

Nicht nur. Vom Görlitzer Bahnhof habe ich mal einen brennenden Polizisten runterrennen sehen. Ich bin auch in Polizeiautos mitgefahren. Man hat einfach Angst, wenn die Steine auf das Blech prasseln. Normalerweise bin ich aber zu Fuß unterwegs.

Das ist ja noch gefährlicher.

Ich sehe immer zu, dass ich eine Hauswand oder eine Tür im Rücken habe, wenn es losgeht.

Was für Reaktionen haben Sie von den Uniformierten erfahren?

Die meisten schrecken in der Regel vor mir zurück, weil ich eine ältere Frau bin. Wenn einer frech wird, mich nach meinem Ausweis fragt, ohne bitte zu sagen, bekommt er von was zu hören: Passen Sie auf, junger Mann, Sie könnten mein Sohn sein. Bei dem würde ich jetzt ausholen, sage ich dann. Da wird der Ton meistens besser. Ich habe aber auch schon viele Platzverweise bekommen.

Haben Sie es es geschafft, nach Polizeiübergriffen Dienstnummern zu bekommen?

Ach, hörn Se uff. Ich habe oft beobachtet wie Leute, die ganz harmlos dastanden, von Polizisten zusammengeschlagen und -getreten worden sind. Aber bis ich da bin, sind die längst über alle Berge.

Was sagen eigentlich ihre Kinder dazu, dass sich Mutter bei Krawall draußen rumtreibt?

Die sind ganz besorgt. Meine Tochter ruft am 2. Mai immer frühmorgens aus Hannoversch Münden an: Mama biste zu Hause oder muss ich dich im Krankenhaus besuchen?

Hatten Sie zu ihren eigenen Eltern auch so ein gutes Verhältnis?

Ich bin ein One-Night-Stand. Mein Vater war Russe. Meine Mutter, eine Schneiderin, war ein Wandervogel. Sie hat mich und meine Halbgeschwister mehr schlecht als recht durchs Leben gebracht. Viel Armut, viel Flucht, viel in Heimen.

Sie sind in Wilmersdorf geboren und haben dort bis Ende der 60er-Jahre gelebt – nicht nur auf der Sonnenseite.

Mein Leben ist voller Geschichten. Mein Exmann hatte die Scheidung nicht akzeptiert und bei uns die Wohnungstür eingeschlagen. Damals gab es noch keine Frauenhäuser. Mir blieb nicht anderes übrig, als mit den drei Kindern ins Obdachlosenasyl zu flüchten. Dort waren wir zwei Jahre, bis wir nach Britz in eine 1,5-Zimmer-Wohnung umziehen konnten – für uns ein Königreich.

„Schön ist die Kreuzberger Randale am 1. Mai nicht. Aber die Jugend reagiert nun mal anders. Als älterer Mensch fragt man sich: Warum, wieso, weshalb? Als Jugendlicher sagt man: Das ist so. Die Jungen sehen nur ihren Zorn“

Konnten Sie ihre Familie von ihrem Beruf als Strickerin ernähren?

Das ging nicht. Ich habe lange in einem Metallbetrieb an der Drehbank gestanden. Die Kinder mussten jeden Morgen um viertel vor fünf aufstehen. Als ich erfahren habe, dass sie in der Schule schlafen oder schwänzen, habe ich mich gefragt: Willste dich um deine Kindern kümmern oder Beruf? Ich habe mich für meine Kinder entschieden und fortan Sozialhilfe bezogen.

1974 hat es Sie dann nach Kreuzberg verschlagen.

Da war ich mit Markus schwanger. Im gerade fertig gestellten NKZ ist mir eine größere Wohnung angeboten worden.

Wie war das, von Britz ans Kottbusser Tor zu ziehen?

Das war ein Kulturschock. Kreuzberg war für mich der Abschaum. Der letzte Bezirk sozusagen. Entschuldigung, aber so stand es in der Presse und ich habe es geglaubt. Direkt an der U-Bahn zu wohnen, war schrecklich. Heute fällt einem nur noch auf, wenn keine fährt. Oder die Kreuzberger Nationalhymne: Lalülala. Mittlerweile kann ich genau sagen, ob Polizei, Zivi, Wanne oder Feuerwehr draußen vorbeifährt.

Plötzlich wohnten Sie mitten in einer türkischen Community.

Es war ein langer, langer Lernprozess, Kreuzberg zu lieben. Dann habe ich festgestellt, dass die Türken größtenteils sehr nette Leute sind. So eine liebe Nachbarin wie die Türkin nebenan, bekomme ich nie wieder. Mir wurde eine behindertengerechte Wohnung angeboten. Ich habe gesagt: nein. Nur wenn sie mitzieht.

Was war für Sie der Grund, politisch aktiv zu werden?

Ich mußte älter werden, um zu begreifen. In Kreuzberg – Multikulti, die vielen Probleme – fing ich an, wachzuwerden. Dazu kam, dass Markus größer wurde, und ich ein neues Betätigungsfeld brauchte. Ich wollte keine Mutter sein, die auf ihren Kindern kluckt. 1982 bin ich in die SPD. Unsere Gruppe, die 6. und 7. Abteilung war politisch immer sehr aufmüpfig. Auch zwischenmenschlich fühlte man sich geborgen. Ich wurde Kreisdeligierte, hatte einen rasanten Aufstieg, weil ich das Drogenproblem und die Jugendlichen thematisiert habe.

Am Kottbusser Tor sind Sie bekannt wie ein bunter Hund. Wer sich so exponiert, hat nicht nur Freunde, oder?

Begriffe wie Drogenoma und Chaotenoma stören mich nicht. Aber was bin ich von Mietern angefeindet worden, dass ich für die Einrichtung eines Drogenkonsumraums im Kiez gekämpft habe. Als ich im Gesundheitsausschuss über die Dealer geschimpft habe und die Mopo meinen vollen Namen veröffentlicht hat, ist mein Auto gestohlen und abgefackelt worden. Auch Drohanrufe habe ich bekommen.

Können Sie sich vorstellen, aus Kreuzberg wegzuziehen?

Meine Kinder wollen, dass ich zu ihnen nach Westdeutschland ziehe. Aber ich bin nicht die Oma, die im Schaukelstuhl sitzt und strickt.

Heißt das: Doch auf die Straße, wenn am 1. Mai die Post abgeht?

Nur wenn die neue Prothese da ist. Ich habe sie schon gesehen. Sie ist ganz leicht, sitzt wie ein fester Strumpf, ist fleischfarben und hat richtige Zehennägel. Die kann ich sogar rot anmalen.