Rot-grünes Verwirrspiel mit Methode

Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und Überalterung sind nicht die Probleme Deutschlands, sondern Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche, meinen alternative Wirtschaftspolitiker. Doch das versuche die Bundesregierung zu verschleiern

AUS BERLIN BEATE WILLMS

Von Feierlaune war wenig zu spüren, als die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gestern ihr Memorandum 2004 vorstellte. Dabei war es das 30. Gegengutachten zu den Empfehlungen der offiziellen Wirtschaftsweisen. Unterschrieben hatten es mehr als 800 Wirtschaftswissenschaftler aus Hochschulen, Instituten und Gewerkschaften. „Das ist aber auch der einzige Grund zur Freude“, sagte der Bremer Ökonom Rudolf Hickel, der der Memo-Gruppe von Anfang an angehört. Inhaltlich gebe es dazu keinen Anlass: Nach bereits drei Jahren Stagnation revidieren alle Forschungsinstitute ihre Wachstumsprognosen. Mehr als 1,4 oder 1,5 Prozent erwartet für 2004 kaum noch jemand. Was die Bundesregierung dem entgegenzuhalten habe, sei jedoch nur „Chaos mit Methode“.

„Schon damit wir auf ein Wachstum von 1,4 oder 1,5 Prozent kommen, darf nichts passieren“, sagte Hickel. Will heißen: kein Problem der USA mit ihrem Leistungsbilanzdefizit, kein Problem Chinas mit zu schnellem Wachstum, kein zu starker Euro, kein zu stark steigender Ölpreis. „Ein Prozent Wachstum wäre schon sehr günstig.“ Grund für diese pessimistische Annahme: Die Binnenwirtschaft ist so schwach, dass auch die – tatsächlich vorhandenen – Impulse aus dem Export sie nicht mehr wie früher anzuschieben vermögen. Verantwortlich dafür sind laut Memorandum die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Belastungen durch die Gesundheitspolitik sowie der Rückgang der öffentlichen Investitionen.

„Die Bundesregierung hat völlig unterschätzt, welche gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen es hat, wenn die private Nachfrage ausfällt“, so Hickel. Die gesamte Agenda 2010 laufe deswegen in die falsche Richtung. Was ihn und seine Kollegen am meisten fuchst: Die Argumentation der Bundesregierung, wegen des durch die Globalisierung gestiegenen Wettbewerbsdrucks und der so genannten demografischen Zeitbombe gebe es keine Alternative. Dabei hätten beide Hauptprobleme in Deutschland, Massenarbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche, mit beiden nichts zu tun, sondern seien hausgemacht. Besonders perfide sei aber der „ideologische und propagandistische Aufwand“, der zur Verschleierung betrieben werde.

„Es macht sich kaum jemand die Mühe, den aktuellen Stand der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion nachzuvollziehen“, so Hickel. So sei es der Bundesregierung möglich, ihre gesamte Politik auf zwei eigentlich unhaltbaren Mythen aufzubauen: Während die Globalisierung die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedrohe, führe die absehbare „Überalterung“ der Bevölkerung dazu, dass die Systeme der sozialen Sicherung unfinanzierbar würden.

„Das ist doch Quatsch“, so Hickel. Deutschland gehöre wegen der unterdurchschnittlichen Lohnstückkosten zu den Ländern mit dem höchsten Export und dem höchsten Außenhandelsüberschuss der Welt und sei also sehr wohl wettbewerbsfähig.

Als noch chaotisierender beurteilen die alternativen Wirtschaftswissenschaftler die Begründung für den Abbau der Sozialsysteme. Die aktuellen Finanzierungsprobleme der Kassen seien vor allem auf die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die Ausbreitung niedrig entlohnter Arbeitsverhältnisse zurückzuführen. Die vermeintliche demografische Zeitbombe dagegen erweise sich als Attrappe: Achim Trube, Professor an der Universität Siegen, hält den so genannten Altersquotienten, der angibt, wie viele Rentner von einem Erwerbsfähigen ernährt werden müssen, für irreführend. Entscheidend sei die Relation von aktiver und nicht aktiver Bevölkerung – zur zweiten Gruppe gehören auch Erwerbsunfähige, Arbeitslose und die ganz Jungen. Der Unterschied ist erstaunlich: Schon derzeit sind es nicht, wie offiziell behauptet, vier Erwerbsfähige, die einen Rentner mitfinanzieren, sondern 2,7 tatsächlich Erwerbstätige. 2015 wären es 2,1. „Das ist zwar eine Verschlechterung, aber bei weitem nicht die behauptete Halbierung“, so Trube. Selbst das könnte die Politik noch beeinflussen, indem sie die Arbeitslosigkeit mindert. Hickel rechnete vor, dass eine bescheidene Produktivitätssteigerung von 1,5 die Wirtschaftsleistung bis 2050 verdoppeln könnte.

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