Neue politische Relevanz

Soziale Bewegungen brauchen alternative Entwürfe und gesellschaftliche Projekte, um Erfolg zu haben. Der Protest der Gewerkschaften gegen die Agenda 2010 reicht nicht

Was die einen als Öffnung der Gewerkschaften adeln, tadeln andere als Weg in die politische Isolation

„Wir sind wieder da!“, so lautet ebenso knapp wie selbstbewusst die gewerkschaftliche Einschätzung nach dem Europäischen Aktionstag. Auch von den Medien wird der gesellschaftliche Mobilisierungserfolg des 3. April der Organisationsstärke der Gewerkschaften zugeschrieben. Teils mit einer gewissen Überraschung, teils mit großem Erstaunen wird in der Presse vom Comeback der Gewerkschaften geschrieben. Von ihrer „Rückkehr auf die politische Bühne“ nach dem Krisenjahr 2003 ist die Rede.

Die zweifellos beeindruckend demonstrierte politische Präsenz darf allerdings nicht zu voreiligen Schlüssen und falschen Konsequenzen führen. Gerade mit Blick auf den 1. Mai ist es notwendig, den politischen Charakter des Europäischen Aktionstages zu analysieren und die Doppeldeutigkeit seiner medialen Wirkung zu erkennen, um daraus die richtigen strategischen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der „Anti-Agenda-2010-Protest“, der am 3. 4. seinen bisher deutlichsten öffentlichen Ausdruck gefunden hat, sollte nicht als der Beginn einer „neuen sozialen Bewegung“ historisch falsch gedeutet werden. Dem vielschichtigen Bündnis fehlen nicht nur überzeugende Botschaften und politische Alternativen, sondern auch gesellschaftliche Visionen.

Die Demonstranten, von frustrierten Sozialdemokraten über enttäuschte Gewerkschafter bis hin zu globalisierungskritischen Attacies und heimatlosen Linken, fanden sich zusammen in einer defensiven Negativkoalition. Sie eint aktuell „nur“ ein Protest, der sich in der Forderung nach einem politischen Kurswechsel erschöpft. An die Adresse der Schröder-Regierung und der Müntefering-SPD wird appelliert, Teile der „Sozial“-Reformen zurückzunehmen.

Da den meisten Demonstranten mehr oder weniger bewusst ist, dass „schwarz-gelbe Reformen“ noch tiefere Einschnitte bedeuten und zu noch größerer Unsicherheit führen würden, drängen sie auf rot-grüne Einsichten und hoffen, dass ihr Protest die Regierung zum Einlenken bringt. Soziale Errungenschaften verteidigen und politische Standards schützen zu wollen, ist legitime Klientelpolitik und berechtigtes Anliegen von Interessenverbänden. Aber die Verständigung auf den kleinsten politischen Nenner führt nicht zu einer sozialen Bewegung.

Soziale Bewegungen, die große politische Veränderungen anstreben und breiten gesellschaftlichen Wandel gestalten wollen, brauchen alternative Entwürfe, politische Konzepte und gesellschaftliche Projekte. Während von sozialem Kahlschlag, Sozialklau und sozialen Grausamkeiten in Stuttgart, Köln und Berlin viel die Rede war, drangen eigene Vorschläge für die nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, für die dauerhafte Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und die politische Gestaltung der globalen Wirtschaft nicht durch. Der Protest wird nur dann politische Wirkung zeigen, wenn durchdachte Konzepte vorgelegt und überzeugende Alternativen entwickelt werden.

Der Aktionstag war auch nur auf den ersten Blick ein medialer Erfolg für die Gewerkschaften. Es wurde zwar breit berichtet und ausführlich kommentiert. Aber die Gewerkschaften haben es nicht geschafft, mit ihren politischen Bewertungen in der medialen Deutung durchzudringen. Ihre zentralen Kernbotschaften („Protest aus der Mitte der Gesellschaft“, „Aktionstag der schweigenden Mehrheit“, „Klares Signal für politischen Kurswechsel“) wurden von den Medien mittransportiert. Aber die meinungsbildende Kommentierung des 3. 4. ging fast durchweg in eine andere Richtung. Der Europäische Aktionstag wurde in den Kategorien wahrgenommen, die seit Jahren das Image der Gewerkschaften prägen. Diese meist negativen „Bilder“, Zuschreibungen und Deutungen wurden nicht „zerstört“, verändert oder relativiert, sondern in der Tendenz eher noch verstärkt, verfestigt und zementiert. Die Berichterstattung zum 3. 4 bediente sich der vertrauten Begriffe: „Blockade“, „Realitätsflucht“, „Protest ohne Alternativen“. Die Gewerkschaften gelten in den Kommentaren weiterhin als vergangenheitsbesessen statt zukunftsoffen.

Auch das angespannte Verhältnis zwischen DGB-Gewerkschaften und der SPD wurde auf eine harte Probe gestellt. Inzwischen ist eher von einer Verhärtung der Fronten und einer Steigerung des gegenseitigen Misstrauens auszugehen. Den größten Zuspruch erhalten die Gewerkschaften von der globalisierungskritischen Bewegung Attac. Von Attac wird der Aktionstag und die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften nicht nur als ihr bisher größter Erfolg gewürdigt. Der 3. 4. habe darüber hinaus jene Kräfte im DGB gestärkt, die sich von der SPD loslösen und stärker auf die sozialen Bewegungen zugehen wollen. Was von den einen als ein sichtbares Zeichen der gesellschaftlichen Öffnung der Gewerkschaften geadelt wird, wird von anderen aber als falscher Weg in die politische Isolation getadelt.

Die gewerkschaftliche Kritik an falschen politischen Weichenstellungen muss fortgeführt, aber mit eigenen Vorschlägen konkretisiert und durch umsetzungsfähige Konzepte untermauert werden. Die Gewerkschaften brauchen außerdem merkfähige und populäre Kernbotschaften, die diese Alternativen kommunikationsfähig machen. Das ist nicht nur wichtig, um die Mitglieder von der Richtigkeit der eigenen Ansätze zu überzeugen, sondern auch, um in der breiten Medienöffentlichkeit überhaupt Gehör und in der gesellschaftlichen Mitte Unterstützung zu finden.

Es ist legitime Klientelpolitik, soziale Errungenschaften zu verteidigen – aber auch nicht mehr

Da die Regierung angeschlagen ist und unter einem Glaubwürdigkeitsdefizit leidet, ist es politisch unwahrscheinlich, dass Rot-Grün wesentliche Teile der Agenda 2010 zurückzieht. Aufgabe der Gewerkschaften ist es deshalb, den Blick stärker auf die Themen zu lenken, die noch vergleichsweise „offen“ sind und die in die Zukunft weisen (Bildung für alle, gerechtes Steuer- und Abgabensystem, Innovation für Wirtschaftswachstum, Familienpolitik als Gesellschaftspolitik). Da die Gewerkschaften weder die Aufgabe haben, sich wie eine politische Ersatzpartei zu verhalten, noch den Anspruch nach gesellschaftlicher Dauermobilisierung erheben sollten, ist aber auch eine realistische Einschätzung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten vonnöten.

Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Gruppen in „Ein-Punkt-Allianzen“ kann die Öffentlichkeit für die eigenen Sichtweisen sensibilisieren und den politischen Druck erhöhen. Aber bewusst als Ersatz für konstruktive Kooperation mit Parlament, Parteien und Regierung konzipiert, würde dieser Weg früher oder später in einer politischen Sackgasse enden.

Die Glaubwürdigkeitskrise der Gewerkschaften ist Ausdruck der wachsenden Distanzierung der gesellschaftlichen Mitte von den Gewerkschaften. Und sie hängt zusammen mit der Meinung der politischen Entscheidungsträger, gewerkschaftliche Aktionen kaum noch für ihr Handeln einkalkulieren zu müssen. Auch daran scheint der 3. 4. nicht grundsätzlich etwas verändert zu haben. JUPP LEGRAND