Im Eis lebendig begraben

Die Geburt des Helden aus der Gletscherspalte: Das britische Dokudrama„Sturz ins Leere“ feiert die Bergsteiger und den Mythos des Survival of the Fittest

Es gibt Geschichten von Menschen, die binnen einer Nacht ergraut sein sollen. Als hätte das Leben alles, was es an Verzweiflung, Erschütterung und Triumph zu bieten hat, in eine kurze Zeitspanne extremer Erfahrung gebannt und damit all sein Pulver verschossen. Das Erlebnis, das der Bergsteiger Joe Simpson in seinem Bestseller „Touching the Void“ beschreibt, ist eines, von dem man sich ein Leben lang erholen muss. Und von dessen Heroentum der Held die verbleibende Zeit in ödem Wiederholungszwang nur noch zehren wird. Was kann noch kommen nach einer Auferstehung von den Toten?

Das Ereignis – schon 1988 in Buchform gefasst, aber nach etlichen vergeblichen Versuchen erst jetzt verfilmt – geht auf das Jahr 1985 zurück. Joe Simpson und Simon Yates, junge Bergsteiger, die bislang vorwiegend in den Alpen geklettert sind, setzen sich zum Ziel, als Erste die Westwand des Siula Grande in den peruanischen Anden zu besteigen. Den Gipfel auf 6.356 Metern erreichen sie nach drei Tagen Aufstieg über Schneerinnen und vereiste Hänge völlig erschöpft und später als geplant; beim Abstieg stürzt Joe und zerschmettert sich das Kniegelenk, ein, wie es heißt, „sicheres Todesurteil in den Anden“. Nun beginnt ein dramatischer Überlebenskampf.

Simon Yates verknotet die Hauptseile und lässt seinen verletzten Kompagnon über endlos wiederholte „Rutschfahrt“-Etappen den Berg hinab. Doch das Abseilen endet jäh: Der halb erfrorene Joe hängt über einem Abgrund und kann sich nicht durch Rufe verständlich machen. Simon hält ihn für tot und schneidet das Seil durch, um sich selbst zu retten. So fällt Joe beim „Sturz ins Leere“ in eine Gletscherspalte, lebendig zwar, aber so gut wie bewegungsunfähig. Simon indes klettert an der Gletscherspalte vorbei zum Lager zurück, ohne nach Joe zu suchen.

Joe Simpson wird überleben, das weiß der Zuschauer, schließlich hat er ein Buch geschrieben und ist in den immer wieder eingeblendeten Interviewpassagen leibhaftig zu sehen. Doch glauben kann man's kaum. Genüsslich spielt „Sturz ins Leere“ den Suspense aus: Wie, um Himmels willen, ist dieser Mensch aus dem Gletscher herausgekommen? Wie hat der Todgeweihte ohne Hilfe und mit nur einem intakten Bein zum Lager zurückkehren können?

Diese Spannung und der Thrill der Fantasie vom Lebendig-Begraben-Sein begleiteten den Film bis zum Schluss. Der Regisseur Kevin MacDonald zieht alle Register, um die kargen Mittel der Dokumentation mit Spielfilmtechniken aufzupeppen: dramatische Musik, Slowmotion, spektakuläre Einstellungen, Stunts und die mit Schauspielern nachgestellte Geschichte sollen der Vorstellungskraft auf die Sprünge helfen. Das gelingt bisweilen, bisweilen fällt es auf die Nerven, etwa, wenn der völlig zerschundene Joe bei seiner Heimkehr so theatralisch oft über Felsbrocken fällt wie Jesus unterm Kreuz in einem anderen derzeit populären Film oder wenn der kommende große Unfall durch etliche kleine Stürze und Gefahren mit der immer gleichen Mechanik vorbereitet wird: Schneesturm, klirrender Karabinerhaken, Ausrutschen, Rettung, weiter im Takt.

Junge Männer zwischen 20 und 30 sind eine Risikogruppe. Wissen nicht wohin mit ihrer Kraft und handeln gerne fahrlässig. Simpson und Yates gehörten zu dieser Sorte. Vernünftigerweise hätten sie umkehren müssen, als das Wetter schlecht wurde, sie hätten mehr Gas zum Kochen mitnehmen und vor allem mehr Anden-Erfahrung sammeln müssen, bevor sie es sich in den Kopf setzten, jungfräuliches Gebiet zu besteigen. Aber Vernunft gebiert keine Helden. Es ist legitim, das Schicksal herauszufordern auf der Suche nach großen Gefühlen, aber etwas mehr Reflexion hätte „Sturz ins Leere“ gut getan. In der Szene, die ihn allein gelassen in der Gletscherspalte zeigt, sagt Joe aus dem Off, er habe als junger Mann aufgehört, an Gott zu glauben, und auch jetzt, in dieser Todesnähe, habe er nicht gebetet. Doch wenn er sich schon selbst ohne Hilfe von oben befreit, muss er auch eingestehen, dass er sich selbst und ohne Not hier unten hineingebracht hat. Genau diese Seite aber thematisiert der Film nicht. Das Genre Dokudrama reproduziert den Mythos vom heroisch-todesnahen Augenblick, dem auch Veteranen aufsitzen, die nichts Besseres zu tun haben, als ein Leben lang ihre Geschichten vom Krieg zu erzählen.

Die Dreharbeiten zu „Sturz ins Leere“ liefen zum Teil in London, hier entstanden die Interviewsequenzen, die zum Besten im Film gehören, denn selten sieht man männliche Protagonisten so eindringlich und präzise über Gefühle sprechen. Die Spielfilmpassagen entstanden in den französischen Alpen und am Originalschauplatz in den Anden. Der Kameramann Mike Eley hat Joe Simpson bei der Wiederkehr an den Ort des grausamen Abenteuers gefilmt, seine Reaktionen beim Gefühl, „über sein eigenes Grab zu gehen“, müssen extrem gewesen sein. Dies wäre das wesentliche dokumentarische Material, doch es ist, wen wundert's, nicht in den Film eingegangen. Es hätte die Fabel von der übermenschlichen Kraft des Menschen, vom Wunder der Willensstärke und dem Überlebenskampf der Besten zerstört. Schade, „Sturz ins Leere“ ist spannend, aber dennoch missraten. Vielleicht lassen sich auf berauschenden 6.000 Metern Höhe keine kühlen Filme drehen.

ANDREA ROEDIG

„Sturz ins Leere – Touching the Void“, Regie: Kevin MacDonald. Mit Joe Simpson, Simon Yates u. a., Großbritannien 2003, 106 Min.