Lehrreich, gediegen und manchmal sogar amüsant

Schriften zu Zeitschriften: „Die Gazette“, ein ehemaliges Online-Kulturmagazin, erscheint nun als gedrucktes Heft

Diesmals geht’s anders herum. Aus dem Meer des Internet taucht Die Gazette auf, um künftig ihr Glück als Papierschiffchen zu suchen. Die erste Druckausgabe der neuen Kulturzeitschrift erfreut das Auge durch übersichtlich gesetzte, mit hinreichendem Durchschuss versehene, großzügig umrandete und mit Marginalien geschmückte Texte. Kein interessantmacherisches, sondern ein konservatives, das heißt gut lesbares Layout.

Im Editorial versichert der Herausgeber, von Großverlegern sowie ideologischen und politischen Gruppierungen unabhängig zu sein (die Abwesenheit entsprechender Anzeigen beweist es). Man wolle nicht „im Trend“ liegen, sondern sich ihm nach Möglichkeit verweigern. Der „gebildete Europäer“, der sich Humanität, Toleranz und geistiger Redlichkeit verpflichtet weiß, als idealer Leser angesprochen. Wer möchte nicht zu dieser erlesenen Schar gehören? Hypocrite lecteur, mon semblable, mon frère!

Die erste Ausgabe setzt keinen Schwerpunkt, man kann aber die beiden, der Identität Europas gewidmeten Essays von Peter Mayer-Tasch und Carl Amery getrost als Leitmotiv nehmen. Hier wie in einer Reihe anderer Beiträge werden die transatlantischen Beziehungen analysiert, ihre Geschichte, wie bei Amery, sarkastisch in den Blick genommen. Vorsichtige Absatzbewegungen gegenüber den USA werden als Ergebnis europäischer Lernprozesse dargestellt. Alles sehr lehrreich, gediegen und zum Teil sogar amüsant, allerdings mit starkem geistesgeschichtlichen Drall versehen. In die Niederungen der europäischen Gegenwart führt im Heft hingegen die gut recherchierte Reportage von Christiane Büld-Campetti über den osteuropäisch-afrikanischen Straßenstrich in Florenz und die fatalen Auswirkungen, die Berlusconis Plan haben würde, die öffentliche Prostitution zu verbieten. Der Artikel, nach dem Vorbild des berühmten Films „La Strada“ getitelt. Vielleicht sollte man ergänzend darauf hinweisen, dass unter dem gleichen Namen in Ostmitteleuropa eine Frauenorganisation zum Schutz der Prostituierten erfolgreich arbeitet.

Überraschende Fundstücke in der Gazette sind mehrere zu vermelden. Zum einen das Gründungsprotokoll der Sitzung, auf der die NSDAP im August 1925 nach ihrem Verbot im Gefolge des Münchner Hitler-Putsches als Verein wiederbegründet wurde. Für den Leser ist das Dokument allerdings von eher archivalischem Interesse. Auch ohne Eintrag im Vereinsregister rollte die Organisations- und Propagandamaschine der Nazis seit Anfang 1925 wieder auf vollen Touren. Das zweite Fundstück, ein Sprachführer der chinesischen Polizei für die Olympischen Spiele 2008, ist aber ein Kleinod, ein Dokument von geradezu surrealer Komik. Sollte es ein Fake sein – gut gemacht! Wer Liebhaber obskurer literarischer Produktion aus der Feder berühmter Politiker ist, kann sich dem Auszug eines zu Recht unbekannten Liebesromans von Valéry Giscard d’Estaing widmen.

Einen besonderen Hinweis verdient der Artikel von Philipp Reuter über die Foto-Sammlung von Peter Herzog in Basel. Ein Dutzend dieser historischen Fotografien (die Sammlung umfasst mehrere hunderttausend Fotos) sind großformatig abgebildet und ebenso einfühlsam wie gelehrt erläutert. Eine Arbeit, die sich am Blick Walter Benjamins auf die frühen Meister der Fotografie schult.

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass sich die Gazette in der Kunst der journalistischen Selbstbeschmutzung übt. Der Artikel „Klatsch und Verrat“ widmet sich dem moralischen Dilemma, dem folgend der Journalismus sich am Unglück und Elend anderer mästet. So ist’s.

CHRISTIAN SEMLER

Die Gazette. 114 Seiten, 4 Euro