Der Mai ist gekommen

Prügelnde Polizisten, prügelnde Kommunisten, geprügelte Nazis? Das ist nur die halbe Wahrheit. Das Maiwochenende in Berlin war in diesem Jahr nämlich ruhiger als sonst. Eine Chronologie

FREITAG 19:00, S-Bahnhof Friedrichstraße: Ein Sprecher begrüßt die rund 1.500 Anwesenden zur ersten Demo des 1. Mai unter dem Motto „Kommunismus statt Europa“. Er erklärt die EU zum Zusammenschluss kapitalistischer Nationalstaaten, die Weltmacht spielen wollen.

19:30, Tucholskystraße: Der DJ der Kommunistendemo ist versiert. Nach der Warnung vor Festnahmen läuft „They won’t gonna get us“, nach der Anti- NPD-Rede „This is not a love song“.

20:00, Rosenthaler Platz: Die Demo endet friedlich. Ein Polizeisprecher erklärt zwei Touristinnen: „They want to do something with the police, throwing stones.“

21:15, Eberswalder Straße: Mitarbeiter von Alba füllen mitgebrachtes Bier der Mauerparkbesucher in Plastikbecher. Am Parkeingang steht eine Polizeikette, die niemanden mit Flaschen hereinlässt.

00:15, Eberswalder Straße: Nach einem Wortgefecht mit der Polizei und einem Flaschenwurf beginnt die von allen erwartete Randale. Die Polizei bildet keine Fronten, sondern zieht mit kleinen Greiftrupps durch die Menge, angelt sich immer wieder gezielt Einzelne heraus.

01:20, Mauerpark: Der Park ist geräumt, die Lage beruhigt. Die Massen flanieren über die dank Parkverbot wunderbar autofreie Oderberger Straße und genießen ein spätes Bier.

SAMSTAG10:30, Strausberger Platz: Zwei Bamberger Polizisten starren auf den halb entblößten Hintern einer Punker-Lady. Sie möchte, dass der Demozug der Gegendemo endlich losgeht. „Den Nazis auf die Fresse hauen“, grölt sie mit Bier in der Hand in Richtung Lichtenberg.

11:05, Oranienburger Straße: Angeführt von der IG-BAU ist der Demo-Zug der Gewerkschaften auf über 10.000 Menschen angewachsen. „Nichts ist gut so – schon gar nicht in Berlin. Gemeinsam gestalten nur mit uns!“, sagt das Fronttransparent. Dahinter laufen Wolfgang Wieland (Grüne), Michael Müller (SPD), Bernd Rissmann (DGB-Landesvize).

11:15, Oranienburger Straße: Der Demoblock der BSR-Beschäftigten fegt die Straße und rollt Mülltonnen hinterher. Das Plakat: „Mit den Arbeitnehmern der BSR ist immer zu rechnen. Und das ist nicht gut so.“

11:40. Hackescher Markt: Ein paar Attac-Jugendliche skandieren: „Neoliberal ist asozial.“ Sie erhalten als Einzige den Geleitschutz der Polizei.

12:05, Rotes Rathaus: Die zentrale Kundgebung des DGB: Landesvize Bernd Rissmann wirft dem rot-roten Senat „Wahlbetrug“ vor. 530.000 Berliner lebten bereits unter der Armutsgrenze: „Das ist die Realität.“

12:25: Michael Sommer, DGB-Chef, legt los. Sommer schließt seine Rede mit dem Zitat: „Wenn wir schreiten Seit an Seit.“

13:00, Frankfurter Allee: Während am Roten Rathaus das Volksfest beginnt, heißt es auf der Frankfurter Allee warten. Am U-Bahnhof Magdalenenstraße sperrt die Polizei die Straße ab.

14:00, Bahnhof Lichtenberg: 2.300 Nazis grillen auf ihrem Abmarschplatz schon seit vier Stunden in der Sonne. Sie fordern „Straße frei für nationale Sozialisten“. Auf der Lichtenberger Brücke sind hunderte von Gegendemonstranten zu sehen.

14:30: „Offensichtlich will die politische Führung auch Randale mit der NPD“, ruft ihr Sprecher über Megafon. Kameradschaftsmitglieder drängeln nach vorne. Nach Rangeleien geht die Polizei mit Schlagstöcken auf die Nazis los. „Das hat es noch nie gegeben“, sagt ein Polizeisprecher.

15:10: Die Nazis setzen sich tatsächlich in Bewegung, müssen nach 150 Metern aber wieder anhalten. Flaschen fliegen, über die Polizeiketten hinweg, zwischen NPDlern und Gegendemonstranten hin und her.

15:30, Frankfurter Allee, Rosenfelder Straße: Die Polizei räumt eine Blockade von mehrern hundert Gegendemonstranten. Dabei wird versehentlich auch ein Zivilpolizist verprügelt. „Wenn wir in dem Tempo weiter kommen, sind wir am 3. Mai fertig“, stöhnt der Polizeisprecher.

15:50: „Ich hatte gehofft, dass die Nazis gleich wieder in die S-Bahn gesetzt werden“, sagt Grünen-Politiker Christian Ströbele. Angesichts tausender Gegendemonstranten sei es unverständlich, dass die Route jetzt von der Polizei freigekämpft werde.

16:15: „Das sind die rechtsextremen Kameradschaften, die hatten mit der NPD bisher wenig zu tun“, meint eine Szenekennerin. Sie ist überrascht, dass auch viele junge Frauen bei den Nazis mitmarschieren.

16:30, Kottbusser Tor: Alles ist ruhig. Unter dem Neuen Kreuzberger Zentrum demonstriert auf der Adalbertstraße eine Handvoll Maoisten. Einer schwenkt eine rote Fahne mit dem Mao-Konterfei, ein anderer wettert mit sich überschlagender Stimme gegen den Kapitalismus.

16:30, Frankfurter Allee, Aral-Tankstelle: Rund 350 Gegendemonstranten werden am Rande der NPD-Demo seit mehreren Stunden von der Polizei eingekesselt. Der PDS-Abgeordnete Freke Over klagt später, man habe selbst ihn festgehalten, sein Fahrrad beschädigt und sein Ohrläppchen verdreht, bis es blutete. Over stellt Strafanzeige. Auch andere PDS-Politiker werden festgehalten, der stellvertretende Bezirksvorsitzende muss mit einem Beinbruch ins Krankenhaus.

16:45, S-Bahnhof Frankfurter Allee: Die Gegendemonstranten sind mit Schubsen, Schlagstöcken und Wasserwerfern weit nach Friedrichshain zurückgedrängt worden. Dort brennen mehrere Müllcontainer und ein Auto, dichter Qualm steigt auf. „Es geht weiter“, verkündet die Polizei. „So was hab ich schon lang nicht mehr gesehen“, meint ein bayrischer Polizist. Die Nazis müssen gut 300 Meter vor dem S-Bahnhof warten.

17:00, U-Bahnhof Samariterstraße: Auf der Frankfurter Allee liegen Bauzäune, Schutt und ausgebrannte Mülltonnen. „Maidemonstrationen in der Innenstadt. Erhebliche Behinderungen!“, verkündet eine einsame Leuchtanzeige.

17:15, S-Bahnhof Frankfurter Allee: Die Wasserwerfer fahren zurück. Die NPD-Demo soll nach einer Zwischenkundgebung zurück nach Lichtenberg, verordnet die Polizei. Weil es so spät ist und wegen der Gegendemonstranten. Die Nazis haben nach sechs Stunden gerade mal ein Siebtel der geplanten Strecke geschafft.

17:30, Leipziger Platz: Die knapp 5.000 Teilnehmenden der Revolutionären 1. ACT-Demo ziehen mit viel Getöse, drei Moderatoren und Antifa-Groupies Richtung Kreuzberg. „Alles für Alle“, gegen Kapitalismus und den neoliberalen Umverteilungsprozess, ziehen sie an den glänzenden Prachtbauten auf der Leipziger- und Kochstraße vorbei. Alles bleibt heil.

17:30, Mariannenplatz, MyFest: Die Grills der PKK-Stände qualmen, Schriften wie „Sozialismus in Mesopotamien“ werden verteilt, Aleviten tanzen. Vor der Thomaskirche verwummern die türkischen Hardrocker „Stoneheads“ auf einer der Bühnen ein altes anatolisches Lied. Der Abgeordnete Freke Over, ehemaliger Hausbesetzer, erinnert die Picknickenden auf der Mariannen-Wiese daran, dass „seit Donnerstag – auch in Berlin – 30 Gramm Cannabis erlaubt sind“. Das sei doch was, meint Over. Hinter der Bühne frotzelt er dann: „Die warten doch eh nur auf Fassbier.“ Ein paar Meter weiter knutscht ein türkisches Homo-Paar, das vor Kurzem Schlagzeilen in Hürriyet machte, als erstes türkisches Schwulen-Ehepaar.

18:15, Oberbaumbrücke: Die Polizei fährt Kolonne, die Antifas fahren Fahrrad. Alle nach Kreuzberg. An der Brücke trifft man sich wieder, zur Taschenkontrolle.

19:00, Kottbusser Tor: Die revolutionäre Demo endet mit einer Modenschau: Wendejacken und Perücken, um die angekündigte „Manndeckung“ der Polizei zu irritieren. Jutta Ditfurth steht mit einer alten Spiegelreflexkamera um den Hals am U-Bahn-Eingang. „Na ja, bis jetzt verlief alles gut“, findet die ehemalige Frontfrau der Grünen. Türkische Kinder fotografieren mit ihren Handys einzelne Polizisten und schauen sich stolz die ergatterten Porträts an.

19:15, Skalitzer Straße: Eine lange Reihe parkender Polizeiwannen. In einer von ihnen filzen Polizisten einen jungen Mann mit schwarzem Kapuzenshirt. Nebenan, auf dem Bürgersteig, juxen drei Jungs, einer stülpt sich die Kapuze seines himmelblauen Shirts über den Kopf. Ein schwitzender Polizeibeamter faucht ihn an: „Det is echt nich lustig, Mann, nich an so eenem Tach wie heute!“

20:04, Heinrichplatz: Plötzlich donnern einige Leuchrakten. „Das Signal“ wissen einige Kneipenbesucher vor dem „Bateau Ivre“. Tatsächlich stehen minuten später Kapuzenträger auf dem Platz und halten ein Banner hoch. Plötzlich setzt sich der Block aus Autonomen Kommunisten, maoistischen RIMs und Mitläufern Richtung Oranienplatz in Bewegung. „Wir wollen keine Bullenschweine“, rufen die Krawallsüchtigen. Polizei ist weit und breit nicht zu sehen. „Hoch die internationale Solidarität“, skandieren die Linken.

20:45: Die Randalierer entdecken Polizisten auf der Skalitzer Straße. Erst fliegt ein Ball, dann hageln Raketen, Flaschen und zum Schluss Steine. Die Polizei rückt erst nach rund zehn Minuten langsam vor –und zurück. Dann Tränengas. Dann ist erst mal wieder Ruhe. Ein etwa 20-Jähriger bittet einen Fotografen, ein Bild von ihm und seiner Freundin zu machen, mit Polizei im Hintergrund: „Das ist unser erster 1. Mai!“

21:15, Naunynstraße: „Hast du gerade die Flasche geworfen, fragt ein türkischer Händler. „Ja“, antwortet der junge Migrant. „Warum?“ – „Hm“. – „Du kannst die doch nicht bewerfen, wenn die direkt zu dir gucken. Jetzt haben die ein Auge auf dich. In fünf Minuten landest du im Knast“. Der junge Türke verlässt irritiert und schnell die Straßenecke.

21:53, Mariannenstraße: Fast leer gefegt, nur an den Häuserwänden lehnen Schaulustige. Die Polizei steht in Trauben zusammen. Zwei junge Männer tanzen betrunken mitten auf der Straße. Plötzlich sprinten 20 Polizisten auf sie zu. Rempeln einen zur Seite und ergreifen den mit dem schwarzen Kapuzenshirt. Zappelnd wird er mitgeschleift. Eine Viertelstunde lang umstehen ihn nahezu 30 Polizisten.

22:30, Heinrichplatz: Im „Bateau Ivre“ gibt es plötzlich Blut. Ein Mann und eine Frau hauen zwei Gästen Flaschen auf den Kopf. „Lasst sie nicht gehen!“, brüllen Geistesgegenwärtige. Doch die beiden Angreifer werden vor die Tür geschubst – kurz darauf stürmen ein Dutzend Männer und Frauen die Kneipe und versuchen sich erneut auf die Verletzten zu stürzen. Die Angreifer werden rausgeschmissen. Ein paar Minuten später prasseln dann Steine gegen die Fensterfront. Wie sich später herausstellt, haben Autonome Kommunisten an diesem Abend insgesamt zehn Demonstranten überfallen, die zuvor mit einem „Diesmal keine Gewalt“-Transparent auf der Straße gestanden hatten.

00:05, Oranienstraße: Auf der Bühne am Oranienplatz sorgt eine Hardcore-Band für entspannte Partystimmung. 50 Meter weiter brennen Müllcontainer. Jubelnde Jugendliche. Dahinter vier Wasserwerfer und zwei Räumpanzer. Es dauert einige Minuten, bis das Feuer gelöscht ist. Immer wieder greifen schwarz behelmte Stoßtrupps der Polizei gezielt Leute aus der Menschenmenge.

Sonntag, 11 Uhr: Eine Frau im kurzen Kleid trägt ein Molotowcocktail durch die Überbleibsel der Revolution. Ein Video wird gedreht. AW, FLEE, GA, ROT