Wirklich so verfemt?

Die Berliner Ausstellung zu Marc Chagall spielt die Betroffenheitskarte aus, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das wäre doch gar nicht nötig gewesen

VON ULRICH CLEWING

Die Begegnung verlief nicht so unerfreulich wie befürchtet, aber man kann auch nicht behaupten, dass die beiden Männer richtig miteinander warm geworden wären. Er sei ja ganz talentiert, sagte Max Liebermann über seinen jüngeren Malerkollegen, nur eben „ein bisschen verrückt“. Der wiederum war, nachdem er ihm endlich den lang geplanten Besuch abgestattet hatte, um eine reizende Replik nicht verlegen: Liebermann sei zweifellos ein großer Mann, so Marc Chagall, der „größte Maler des 19. Jahrhunderts“ – was im Jahr 1930 nicht gerade als ein Kompliment zu verstehen war, sondern eher als eine ziemliche Unverschämtheit.

Auch sonst hatte Chagall mit Deutschland recht wenig am Hut. Er hatte halt so seine Erfahrungen gemacht. Hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin guten Erfolg gehabt und, als er acht Jahre später wieder dorthin kam, einen Prozess gegen seinen damaligen Galeristen Herwarth Walden führen müssen – nichts wirklich Ungewöhnliches im Kunstbetrieb, aber ihm reichte es fürs Erste. Er hatte schon immer Paris, seine Traumstadt, allen anderen Orten dieser Welt vorgezogen. In Paris verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens bis zu seinem Tod im 1985.

Und doch war sein Verhältnis zu Deutschland ein besonderes – und das nicht allein wegen seiner jüdischen Herkunft oder dem Umstand, dass er 1933 mit zu den ersten Künstlern gehörte, die die Nationalsozialisten als „entartet“ verunglimpften. Chagalls Beziehung zu Deutschland beziehungsweise die Beziehung der Deutschen zu Chagall war und ist zu kompliziert, als dass sie sich auf holzschnittartige Einteilungen reduzieren ließe. Dieser sowohl geistesgeschichtlich als auch sozialpsychologisch interessanten Wechselwirkung auf den Grund zu gehen, ist Anliegen einer Ausstellung, die zuerst im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main zu sehen war und nun in leicht veränderter Form unter dem Titel „Chagall und Deutschland – verehrt, verfemt“ im Max-Liebermann-Haus in Berlin Station macht.

Insgesamt 140 Arbeiten werden gezeigt – Gemälde, aber auch Zeichnungen, Lithografien und andere Grafikzyklen wie etwa Chagalls berühmte Bibelillustrationen oder die 26 Radierungen umfassende Serie „Mein Leben“ aus den Jahren 1922/23, die seinerzeit während seines zweiten, neun Monate dauernden Aufenthalts in Berlin entstanden war. Was die Gemälde betrifft, so begegnet man hier einigen bekannten und vielen unbekannten Bildern, vor allem aus der Frühzeit Chagalls. Dabei handelt es sich um Werke, die einerseits bereits den künstlerischen Eigensinn Chagalls erkennen lassen, andererseits jedoch einen Maler präsentieren, der seine endgültige Handschrift noch nicht gefunden hat. Während ein Bild wie die „Frau mit Blumenstrauß“ von 1910 schon dem bekannten und allseits beliebten Chagall-Stil entspricht, erinnern andere Arbeiten an die Einflüsse, die der Künstler seit seiner Übersiedlung nach Paris 1911 empfangen haben mag: an Matisse und Bonnard, aber auch an die leicht vergröberte Malweise eines Emil Nolde oder Oskar Kokoschka.

Das hat durchaus seinen Reiz, wie immer, wenn etwas nicht den Erwartungen entspricht, wenn Klischees vorgeführt und Denkmuster über den Haufen geworfen werden. Auf der anderen Seite ist es nicht so, dass nach dieser Ausstellung die Kunstgeschichte neu geschrieben werden müsste. Es hat schon seine Berechtigung, dass man Chagall als den schätzt, als den man ihn seit langem kennt: als den Maler-Poeten, den Fantasten, den surrealistischen Lyriker. Und es stimmt wohl auch nicht, dass Chagall bisher immer nur als ein im Grunde harmloser Maler betrachtet wurde, der die Zeichen und Gräueltaten der Epoche ignoriert hätte, wie die Ausstellungsmacher suggerieren.

Natürlich wurde Chagall auch früher schon als Chronist einer Kultur wahrgenommen, die von den Deutschen und ihren Helfershelfern brutal vernichtet wurde. Auch in der Hinsicht erschließt die Schau also nichts fundamental Neues – was nicht verwerflich wäre, würden die Organisatoren nicht so ostentativ mit der pseudoaufklärerischen Keule um sich schlagen. Vor 1933 zählten deutsche Sammler, Juden wie Christen, zu den Hauptabnehmern von Chagalls Werken, über 200 davon gelangten in der Zwischenkriegszeit in ihren Besitz. Auch nach 1945 gehörte Chagall sofort wieder zu den am meisten geschätzten Künstlern hierzulande, in den ansonsten nicht vordringlich selbstkritischen Fünfzigerjahren waren Ausstellungen mit seinen Gemälden, zum Beispiel 1955 in Hannover und 1959 in Hamburg, enorme Publikumserfolge.

Dies allein mit dem schlechten Gewissen der Nachkriegszeit zu erklären, wie die Ausstellung dies versucht, verkürzt die Angelegenheit doch zu sehr. Vielleicht hätte man das Ganze etwas tiefer hängen, das Verhältnis zwischen Chagall und den Deutschen nicht auf das Gegensatzpaar „verehrt und verfemt“ beschränken sollen. Dann wäre diese Ausstellung das geworden, was sie ohne das Wortgeklingel zweifellos ist: eine wunderbare Gelegenheit, Chagall wiederzusehen, in seiner Vielfalt zu entdecken oder darüber nachzudenken, weshalb die gemäßigte Moderne, die er vertritt, umso viel erfolgreicher war und ist als die radikalen Erneuerer der Kunst. So aber überlagert ein anderer Eindruck diese schöne Schau: Die Vorstellung, dass die Betroffenheitskarte ausgespielt wird, um das zu erreichen, was bei immer größerer Konkurrenz immer wertvoller wird – öffentliche Aufmerksamkeit.

Max-Liebermann-Haus, Pariser Platz 7, bis 1. August. Katalog 19,80 €