Die Bewegungen des Lichts

Was Bilder sein können: analog gedreht oder digital errechnet, experimentell oder narrativ, Erinnerungshilfe oder Schießscheibe. Die 50. Oberhausener Kurzfilmtage zeigten: Der kleinste gemeinsame Nenner des Films ist die „Black Box“ des Vorführsaals. Darüber hinaus regieren die Unterschiede

VON DIETMAR KAMMERER

Kurzfilmtage Oberhausen, die Fünfzigste: So ein Filmfest ist (neben vielen anderem: Werkschau, Selbstvergewisserung, Ort zum Austausch von Eitelkeiten, Brennglas des Aktuellen und Blick aufs Zukünftige) ja immer auch eine Gelegenheit, sich aufs Neue mit der beliebten Frage zu beschäftigen: Was ist das überhaupt, ein Film? Eine nur scheinbar simple Antwort darauf gab der Cutter des deutschen Wettbewerbsbeitrages „Nome Road System“: „Ein Film besteht aus Bildern und Tönen, die aneinander gelegt werden. Überlassen Sie sich einfach Ihrer Wahrnehmung.“ Als ob das so einfach wäre: sich seiner Wahrnehmung zu überlassen. Schließlich überlässt man, sobald man im Kinosessel Platz genommen hat, seine Wahrnehmung voll und ganz einem anderen. Und so konfrontiert uns jeder Film mit einer anderen individuellen Sichtweise auf die Welt, auf die Dinge und die Menschen darin.

So kommen etwa die Bilder und Töne von Fischkuttern, Hundeschlitten und dem Überleben am Rande der Welt, die der Regisseur von „Nome Road System“, Rainer Komers, aus Alaska mitgebracht hat, ohne Kommentar aus, als ob jedes erklärende Wort vor der Kargheit der Landschaft bereits zu viel gewesen wäre. Die entgegengesetzte Strategie verfolgt der Beitrag von Kattrin Siegrist und Tina Hennefarth. In „Picture Paradise 1–15“ haben die beiden Filmemacherinnen fünfzehn einminütige Filme über Menschen und die Bilder, die an ihren Wänden hängen, gedreht. Freizügig sprechen die Protagonisten dieser dokumentarischen Miniaturen über die Gründe ihrer Wandgestaltung, und verblüfft erfährt man, wofür Bilder herhalten müssen: als Erinnerungszeichen, als Zeitvertreib, als Schießscheibe.

Ein Bild kann zum Beispiel Anlass für weitere Bildproduktion sein. „Ich muss filmen, weil ich den inneren Drang dazu verspüre“, verteidigt sich Mahmoud Reza Sani, Regisseur des Filmes „Siyamo“, vor den Männern, die ihn fragen, ob er wie alle anderen Fremden auch nach Afghanistan gekommen sei, um dort Ruinen zu filmen. Nein, ist er nicht. Ihm ist im Traum Siyamo erschienen, das „schwarzhaarige Mädchen“, das er in Afghanistan finden muss. Sanis fiktiver Dokumentarfilm entwickelt sich aus einer absurden Prämisse: Wie ein Mädchen mit schwarzen Haaren finden in einem Land, in dem diese Beschreibung auf alle Mädchen zutrifft und keine davon ihr Haar oder ihr Gesicht unbedeckt lassen darf? Ähnlich verbindet Vadim Zakharov in „Dialogue“ politische und vor allem kriegerische Realitäten mit den Mitteln des Experimentellen und der Satire, wenn er die Schatten von Wäschestücken auf der Leine mit einem Gespräch über den israelisch-palästinensischen Konflikt unterlegt – und der Wind, die Reden, die Aufgeregtheit, der Wüstenboden so in ein Bild eingehen.

Auch die deutschen Beiträge fanden überall ihre Themen (wozu gibt es eigentlich diese Trennung in deutschen und internationalen Wettbewerben?): das fürchterlich perfekte Leben in den USA („Living a Beautiful Life“ von Corinna Schmitt) und das weniger perfekte in Kuba („La cola del pez“ von Mechthild Barth). In Bayern wurde jugendliche Provinztristesse auf ihre zarteren Seiten untersucht (der wunderbar lakonische „Nachmittagsprogramm“ von Lola Randl) oder gleich der „Weltkongress der Obdachlosen“ (von Vlado Kristl) einberufen. Jan Verbeek hat in Tokio an einem ganz gewöhnlichen Mittwochabend die U-Bahn gefilmt und den nervenzerreißenden Thriller in fünfeinhalb Minuten ohne Einstellungswechsel gepackt.

Die Retrospektive zeigte „Eine andere Geschichte“ des Festivals in Oberhausen – mithin nicht dessen Klassiker oder eine kongruente Geschichte, sondern eine Auswahl von Filmen, in denen sich jedes Jahrzehnt widerspiegelt, einen „Ariadnefaden“, der eher die unbekannten, wieder zu entdeckenden Werke aus fünfzig Jahren Kurzfilmfest aneinander knüpfte. In den beiden Werkschauen wurden mit Jayne Parker und Yamada Isao zwei Filmkünstler geehrt, die beide als Seiteneinsteiger aus den bildenden oder darstellenden Künsten zum experimentellen Kurzfilm gelangten. Die frühen Filme von Yamada Isao sind Studien der Verbindung von Licht und Flüchtigkeit. Wenn das Schattenbild des Filmemachers versucht, ein Herbstblatt auf dem Boden zu fassen, liegt in dieser Geste eine muntere Spielerei und zugleich die ganze Vergeblichkeit des Versuches, Erinnerung auf Film festzuhalten. Yamada Isao filmt weniger die Gegenstände als die Unschärfen, die Qualität der Bewegung von Licht an sich und das Weißwerden der Leinwand, wenn die Blende zu weit geöffnet wird, als Nullpunkt des filmischen Bildes.

Nirgendwo eindringlicher als auf einem Kurzfilmfestival erlebt man die aktuelle Heterogenität dessen, was vielleicht nur noch einer Gewohnheit zuliebe unter das eine Etikett „Film“ gefasst wird. Neben die Trägermedien Film und Videoband ist längst der Festplattenspeicher getreten, die Bilder werden analog hergestellt oder digital im Computer errechnet, Bild für Bild von Hand modelliert oder dem Zufall des Vorgefundenen überantwortet. Manche Beiträge hätte man in einer Kunstgalerie erwartet, andere im Musikfernsehen. Und in der Programmschiene „Die nächsten 50 Jahre?“ wurde „Film“ schließlich zur „live-cinema performance“. Vor dem einheitlichen Rahmen für all dies – die „Black Box“ Kinosaal, die zahlreichen Rituale des Festivalbetriebes (Schlangestehen für Karten, Drängeln im Vorsaal, Begrüßung und Ansprachen) – wurde die Unterschiedlichkeit des Präsentierten umso deutlicher. „Kurzfilm“ ist nicht der „kleine“ Film, sondern der kleinste gemeinsame Nenner des Films, die Widerspiegelung all seiner Farben, Facetten und Möglichkeiten (oder Unmöglichkeiten). Oder wie Festivalleiter Lars Henrik Gass, der Oberhausen weder auf das Politische, das Populäre noch das Experimentelle festlegen lassen will, es ausdrückt: Kurzfilm ist die Suche nach „alternativen Varianten zur bestehenden Wirklichkeit“, und das umfasst eben auch die Wirklichkeit des Filmes selbst, der sich so beständig neu erfindet.