Wie ein Komplott gegen uns!

Die Türkei und der Grand Prix Eurovision: eine Geschichte ewiger Enttäuschungen – bis zum Triumph im vergangenen Jahr

VON DILEK ZAPTCIOGLU

Es waren nicht die besten Jahre unseres Lebens, die Sechziger, aber die unbeschwertesten. Mein älterer Bruder verwandelte unsere Wohnung gern in eine Disko. „Obladi, oblada, life goes ooon …“, kam es aus dem Plattenspieler, der in passivem Zustand in einem unauffälligen Schrank versteckt war und deshalb auch meiner Mutter gefiel.

Die Nachbarn mokierten sich über die langen Haare meines Bruders, aber meine Mutter verteidigte ihn mit der Bemerkung, auch „unsere zentralasiatischen Vorfahren, die Istanbul eroberten, trugen lange Mähnen“. Auf der Deutschen Schule in Istanbul quietschten nachmittags die Elektrogitarren, denn es musste für den „Intergymnasialen Musikwettbewerb“ geübt werden.

Ich war zehn und lauschte bloß der Musik des staatlichen Rundfunks TRT, während ich für meine Kartonpuppen Kleidchen aus Papier schnippelte und damit meine Mutter nachahmte, die sich aus chaotisch aussehenden Burda-Vorlagen elegante Zweiteiler zauberte.

Der DJ im Radio hieß Sezen Cumhur Önal und begleitete mit seinen blumigen Ansagetexten uns, die jungen Türken, durch die Welt europäischer Schlager und amerikanischer Schnulzen. Sein Lieblingssong: „Autumn Leaves“ („wenn der Herbst auch in unsere Herzen kommt und unsere Sehnsüchte herabregnen wie vergilbte Blätter im Herbstwind“). Lieblingssänger: Nat King Cole („der schokoladenfarbige Interpret mit der samtenen Stimme“).

Die Türkei liebte Amerika, auch wenn die Studenten „Yankee go home“ riefen. Das Kioskangebot für Mädchen meines Alters war auf die italienische Tina und ihre Fotoliebesromane beschränkt, deren Helden Namen wie Luigi und Maria trugen.

Ähnlich hießen auch die Stars des San-Remo-Musikfestivals, das von den DJs im Radio genau verfolgt wurde. Dalida, Domenico Modugno, Johnny Halliday und Sylvie Vartan kamen aus meinen Tina-Heftchen als Miniposter heraus. Ich bastelte mir dazu ein Songbuch, das ich mit Schlagertexten und mit Bildern der Stars schmückte. Das San-Remo-Festival wurde von all meinen Freundinnen in Istanbul mit Sehnsucht erwartet, das Radio brachte nach den Abendnachrichten die aktuellen Lieder, und ich versuchte sie auswendig zu lernen, während mein Bruder nur den Kopf über mich schüttelte.

Nach unserem Umzug nach Hamburg ließ ich mir keine „ZDF-Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck mehr entgehen. Tina wurde durch Bravo, das Radio durch den Fernseher und Dalida durch Katja Ebstein ersetzt. Und San Remo durch den Grand Prix Eurovision.

Die Eurovision zu schauen hieß, herauszufinden, welches Lied aus welchem Land das schönste war. Es galt, Kleider, Frisuren und Tanzfiguren zu begutachten, um sich am Ende zu ärgern, dass nicht das beste Lied gewonnen hatte.

Ab 1975 wurde aus dem Spiel bitterer Ernst, denn die Türkei tauchte am Schlagerhimmel auf. So saßen wir doppelt verletzlich und gespannt vor unseren Fernsehgeräten, um die Performance „unserer“ jungen Semiha Yanki zu begutachten. Nur Monaco erbarmte sich ihrer und schenkte (ja auch uns) drei Punkte – eine Blamage hoch zehn! Ein so lahmes Lied zur Eurovision schicken, ein so fades Kleid obendrein, ein so hässliches Mädchen! Alles war wie ein Komplott gegen uns, das wir niemals verzeihen und vergessen würden.

1980 schickte man endlich einen Superstar ins Rennen – Ajda Pekkan, eine sehr blonde Diva ohne Augenbrauen, die ein Lied namens „Pet’r oil“ vortrug, dessen Refrain („Du sprichst nur die Sprache von Dollar und Mark“) zwar haargenau zur fürchterlichen Ölknappheit in der Heimat passte, aber sonst keine Qualitäten aufwies. Immerhin gab es einmal zwölf Punkte (aus Marokko!) und keinen letzten Platz.

Bis 1986 hielt die Türkei erfolglos an dem Konzept fest, ihre bekanntesten Interpreten zur Eurovision zu schicken. Aber rätselhafterweise schrieben sonst gute Komponisten und Texter übelsten Pseudoeuropop. Die guten Sänger schienen auf der Grand-Prix-Bühne an Stimmbruch zu leiden. Der Höhepunkt war 1983 Cetin Alp mit „Opera“, dessen Text aus einer sinnlosen Aufzählung europäischer Opern bestand – und zu Recht auf dem letzten Platz landete.

1986 wurde zum Jahr des Aufstiegs: Mit dem Song „Halley“ grüßte das Duo Klips & Onlar den Kometen, der unsere Erde erst wieder 2061 besuchen würde. Über den neunten Platz jubelten alle, ich aber besonders, denn eine der Sängerinnen war meine Kindheitsfreundin Sevingül, mit der ich die besagten Kartonpuppen eingekleidet hatte.

Die nächsten zehn Jahre wurschtelte die Türkei unter „ferner sangen“, wobei es nicht einmal half, gute Liedermacher wie Mazhar, Fuat und Özkan (MFÖ) zu delegieren. Was nicht nur sie betraf: Wenn es zur Eurovision ging, schien alles Talent zu schwinden.

Hinterher wurde wieder über „die Griechen“, „die Spanier“ oder „Malta“ geschimpft, die „uns“ keines Punktes für würdig befunden hatten, obwohl „ihr Lied“ nicht besser gewesen war. Die Eurovision artete zum nationalistischen Wettkampf aus, der für mich immer reizloser wurde. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich von den Niederungen des Schlagers längst verabschiedet hatte und nun versuchte, nach Pink Floyd und Genesis den Modern Jazz zu lieben. Eurovision? Miese Musik, zero points – das waren the results.

Mittlerweile schien es vielen so zu gehen wie mir. In den Neunzigern wurde Istanbul zu einer Weltstadt und brachte Musiker hervor, die in London oder New York gern gehört waren. Man feierte und liebte die neuen Stars, allen voran Tarkan, der die Türken über jedes Eurovisiondebakel hinwegtrösten konnte. Die Eurovision war eine trostlose Angelegenheit und neben Tarkan so sexy wie Mary Roos neben Shakira.

Das Interesse an Eurovision Song Contest war nicht einmal so groß wie an lokalen Kamelkämpfen. Türkische Songs landeten im Mittelfeld, oft nur durch die Hilfe von bosnischen oder kroatischen oder mazedonischen Jurys, denen der leicht orientalische Sound offenbar gefiel.

Nun musste der staatliche TV-Sender eingreifen – und fragte Sertab Erener, eine anspruchsvolle Sängerin ohne Talent zum Superstar, gesponsert von ihrem Bruder, dem erfolgreichsten Werbemanager des Landes. Doch sie willigte nur unter der Bedingung ein, dass sie ihren Song auf Englisch singen dürfe.

Englisch? Sofort gab es um den Song Contest wieder hitzige Diskussionen. Warum soll die Türkei nicht türkisch singen? Bloß nicht auf Englisch, nicht wie ein Affe den Westen nachahmen. Andererseits hieß es, Türkisch eigne sich nun mal nicht für Welthits, sogar Tarkan brach sich seit Jahren in den USA ein Bein ab, um so gut Englisch zu lernen, dass er ein Album in der Sprache machen konnte.

TRT befand, aller Kritik zum Trotz, der Song solle auf Englisch gesungen werden. So schrieb der elitäre Rockmusiker Demir Demirkan das Lied – und die Choreografen hatten keine Hemmungen, Sertab Erener auf der Eurovisionsbühne mit orientalistischen Fantasien spielen zu lassen. Der Lohn: „Everyway That I Can“ gewann in Riga und erlöste die Türkei ein wenig vom Glauben, in Europa ungehört zu bleiben.

Und ich? Hab mich wahnsinnig gefreut. Jetzt findet die Eurovision in Istanbul statt, nächsten Sonnabend, und viele Millionen werden auf unsere Stadt schauen. Wer hat gesagt, dass die Eurovision passé sei, unbedeutend, dumm? Nein! Der Eurovision Song Contest ist das wichtigste, schönste, beste Ereignis des Jahres, wenn nicht sogar des Jahrhunderts. Die Eurovisionsmoderatorin dieses Jahres, Meltem Cumbul, sagte aufrichtig: „Für uns geht ein Kindheitstraum in Erfüllung.“ Türkei? Of course, twelve points!

DILEK ZAPTCIOGLU, Jahrgang 1959, lebt, nach einem Studium der Geschichte und Politik in Göttingen, in ihrer Geburtsstadt Istanbul – auch als Korrespondentin der taz. Für ihren Roman „Der Mond isst die Sterne auf“ erhielt sie 1998 den Gustav-Heinemann-Friedenspreis