Torgau streitet um das richtige Gedenken

Opfer der NS-Militärjustiz werfen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten vor, dass sie ihnen zu wenig Raum gibt. Eine Ausstellung facht den Streit an

VON ARIANE BRENSSELL

Das Renaissancestädtchen Torgau an der Elbe, heute beliebte Durchgangsstation für Radtouristen, war im NS-Faschimus eine zentrale Drehscheibe der Militärgerichtsbarkeit. Später, nach dem Krieg und unter der sowjetischen Besatzungsmacht, waren hier Internierungslager und danach, unter DDR-Verwaltung, waren es Staatsgefängnisse.

Am Sonntag öffnete im Dokumentations- und Informationszentrum, das sich im Schloss Hartenfels befindet, die Ausstellung „Spuren des Unrechts“. Schautafeln und Fotografien liefern Hintergründe und erzählen Einzelschicksale aus drei Abschnitten Torgauer Geschichte: zum einen der NS-Militärjustiz, dann der sowjetischen Speziallager zwischen 1945 und 48, schließlich des Strafvollzugs der DDR zwischen 1950 und 1990.

Der Ausstellungstitel klingt unverbindlich, doch wie die Dielen im alten Schloss, „so knarrte es im Vorfeld der Ausstellung im Gebälk“, räumt Norbert Haase, der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, ein.

Bei der Eröffnung der jetzigen Ausstellung aber hatten die Kritiker kein Rederecht. Zum Beispiel ist Ludwig Baumann gekommen, 82-jähriger Wehrmachtsdeserteur, ehemaliger Häftling und Todeskandidat in Torgau und einer der letzen Überlebenden der NS-Militärjustiz. Weil er im offiziellen Teil nicht reden darf, tritt er kurz vor Beginn der Veranstaltung im vollen Schlosssaal ans Mikrofon, um sein Anliegen und das der letzten lebenden Opfer der NS-Militärjustiz vorzutragen: Torgau war der zentrale Ort der Verfolgung von Deserteuren, Kriegsdienstverweigerern, so genannten Wehrkraftzersetzern. Schätzungsweise 1.000 von ihnen wurden in Torgau hingerichtet.

Dies spiegele die Ausstellung nicht wider, argumentiert Baumann. In ihr werde der Schwerpunkt auf die Verfolgungen nach 1945 gelegt. Dies zeige sich etwa in der Anzahl der Exponate, aber auch darin, dass die alte Ausstellung über die Opfer der NS-Militärjustiz – die zuvor im Schloss Hartenfels zu sehen war – zu 95 Prozent „entsorgt“ worden sei. Neben falscher Gewichtung kritisiert Baumann auch den Inhalt: Nach 1945 seien auch Nazitäter in Torgau inhaftiert worden. In der Ausstellungskonzeption seien die NS-Opfer in eine Reihe mit den NS-Tätern gestellt.

Auf der Redeliste der Eröffnungsfeier findet sich kein Platz für solche Kritik. Hauptredner ist Joachim Gauck. Er tritt nach Unmutsäußerungen – auch aus dem Publikum – ans Mikrofon und verkündet, dass er nicht bereit sei, etwas von seiner Redezeit für den Deserteur abzugeben. Die Tagesordnung bleibe. Der Protest von Baumann verhallt im Festsaal des Schlosses.

Erst am Nachmittag bekommt Baumanns Anliegen Raum. Da wird im Fort Zinna nahe bei Torgau, einem der Standorte von Torgaus Militärgefängnissen, eine Informationstafel an einer Garagenwand eingeweiht. Sie solle auf die „bisherigen Fehlstellen, die Opfer der NS-Militärjustiz“ aufmerksam machen und sie zeige, dass auf die Kritik eingegangen werde, so Stiftungsgeschäftsführer Haase.

Erst hier darf Baumann reden. Er erzählt von seiner Desertion, dem Todesurteil, seinen zehn Monaten in der Todeszelle, von den andauernden Traumata und davon, wie sie, die Opfer der NS-Militärjustiz, erst nach langem, zähem Kampf im Jahr 2002 rehabilitiert wurden. Doch, so sagt er leicht bitter, trotz alledem gibt es nach wie vor keine Gedenkstätte für sie in Torgau.

Mit seiner Kritik bleibt der Deserteur nicht allein. Die Politik der Gleichsetzung der Sächsischen Gedenkstätten werde national und international scharf kritisiert, sagt Baumann. Zusammen mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland hätten alle NS-Opferverbände die Stiftung Sächsische Gedenkstätten verlassen. Durch ihre Stiftungspolitik würden das Gedenken an NS-Verbrechen und das Gedenken an Verfolgungen nach 1945 gleichgesetzt, so Baumann, der auch Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz ist.

Zurück im Schloss. Die alten Männer sind gebrechlich. Es ist nicht leicht für sie, den Weg in die Ausstellung zu finden. Man muss über lange, teils schmale Treppen gehen, bis in den dritten Stock. „Es gibt keinen Fahrstuhl? Na dann“, sagt einer von ihnen. Hier sollen nämlich vor allem Schülergruppen durchgeführt werden. Geschichtsunterricht, aber nicht im Sinne der NS-Opfer. Deshalb sind die alten Männer gekommen. Deshalb gehen sie, solange sie können, die Treppen doch wieder hoch.

„Spuren des Unrechts“, im Dokumentations- und Informationszentrum Torgau, täglich 10–18 Uhr. Eintritt frei