Nach eigenen Regeln

Fraglich, ob die Vorgesetzten der Folterer von Abu Ghraib angeklagt werden. Die Praxis der Militärjustiz sieht anders aus

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

US-Regierung und Pentagon haben eine harte Bestrafung jener Soldaten und Offiziere angekündigt, die für die Folter im irakischen Gefängnis Abu Ghraib verantwortlich sind. Da es sich nach Lesart des Verteidigungsministeriums um Einzelfälle der untersten Armeehierarchie handelt, ist fraglich, ob neben den nachweislichen Tätern – überwiegend Militärpolizisten – auch deren Vorgesetzte zur Rechenschaft gezogen werden. Der bisherige Anklagestand und historische Erfahrungen lassen daran zweifeln.

Am Sonntag kündigte das Pentagon an, den ersten Soldaten wegen Gefangenenmisshandlung noch in diesem Monat im Irak öffentlich vor ein Kriegsgericht zu stellen. Das Verfahren gegen den Soldaten Jeremy Sivits soll am 19. Mai in Bagdad beginnen. Sechs weitere US-Soldaten sind im Zusammenhang mit den Foltervorwürfen in Abu Ghraib bisher angeklagt, darunter drei Frauen. Ihnen droht, wie Sivits, ein Prozess vor dem Kriegsgericht. Sechs Offiziere, die in den Folterskandal verwickelt sein sollen, wurden jedoch nach Informationen der New York Times vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen. Gegen keinen von ihnen wurde Anklage erhoben. Gefängnischefin Janis Karpinski, unter deren Kommanado alle angeklagten Soldaten standen, lehnt die alleinige Verantwortung ab. Sie will von den Vorfällen nichts gewusst haben, auch wenn sie einräumt, das besagte Gefängnisabschnitte besser hätten überwacht werden sollen. An ihrem Fall wird zu messen sein, ob die USA nach dem Motto verfahren „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“.

„Unorthodoxe Methoden“

Unangenehm für die US-Regierung dabei ist, dass sie dem US-Militärgeheimdienst den schwarzen Peter zuschiebt. Dieser habe von der US-Übergangsverwaltung in Bagdad die Erlaubnis erhalten, die Kontrolle über bestimmte Gefängnisbereiche zu übernehmen, sagt sie. Dennoch waren Karpinskis Soldaten weiterhin für die Häftlingsbewachung zuständig. Ihre Militärpolizisten, das bestätigt auch der Taguba-Bericht, hätten fortan auf direkte Anweisung des Geheimdienstes gehandelt. Dessen Befehle lauteten, die Gefangenen für Verhöre „physisch und mental optimal vorzubereiten“. Hinter der verschärften Verhörpraxis steckte Geoffrey Miller, der Ex-Lagerkommandant von Guantánamo, dem im Sommer 2003 die Aufsicht über alle irakischen Gefängnisse übertragen wurde. Er wollte mittels „unorthodoxer Methoden“, wie die Washington Post schreibt, mehr Informationen aus inhaftierten Irakern herauspressen.

Weder Miller noch Geheimdienstoffiziere müssen fürchten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ob Anklage gegen Karpinski erhoben wird, ist derzeit ungewiss. Dabei gelte in den USA theoretisch die „Doktrin der Kommandeursverantwortung“, sagt Marjorie Cohn, Rechtsprofessorin an der Jefferson School of Law in San Diego. Diese bildete die Grundlage für die Nürnberger Prozesse, den Internationalen Strafgerichtshof und auch das US-Militärrecht. Vorgesetze sind demnach haftbar für Kriegsverbrechen ihrer Untergebenen, selbst wenn der befehlsgebende Offizier persönlich keine Straftat begangen hat. Er kann jedoch dafür belangt werden, nichts unternommen zu haben, um die Straftaten zu unterbinden – unabhängig davon, ob er über die Straftaten informiert oder nicht informiert war. Eine solche Anklage setzt jedoch meist den politischen Willen voraus. Dieser ist derzeit nicht erkennbar.

Die Erfahrungen mit der militärischen Strafverfolgung in der jüngeren US-Geschichte sind eher ernüchternd. Allgemein gilt die Regel, dass US-Militärangehörige selbst für schwere Verbrechen nicht oder kaum zur Verantwortung gezogen werden, obwohl alle juristischen Instrumente zur Verfügung stehen. Im Unterschied zur strengen zivilen Verfolgung von Straftaten – siehe Todesstrafe oder langjährige Haftstrafen für wiederholten Diebstahl – fällt der generell wohlwollende Umgang mit mutmaßlichen und für schuldig befundenen Kriegsverbrechern auf. Nur gegen wenige wird überhaupt Anklage erhoben, Verurteilte konnten zumeist mit milden Strafen rechnen.

21 Urteile in 80 Verfahren

So untersuchte die US-Armee während und nach dem Vietnamkrieg formal 241 Kriegsverbrechen. Ein Drittel führte zu Gerichtsverfahren, gesprochen wurden 21 Urteile. Am besten dokumentiert ist das Massaker von My Lai 1968. Damals tötete eine Armeeeinheit unter dem Kommando von Leutnant William Calley 347 Vietnamesen. Der Vorfall blieb über ein Jahr der Öffentlichkeit verborgen, bis ein Soldat die Regierung informierte. Dutzende Soldaten wurden wegen Mordes angeklagt, nur fünf von ihnen wurde der Prozess vor einem Kriegsgericht gemacht. Einer, Calley, wurde am Ende des Mordes in 22 Fällen schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die Strafe wurde später auf zehn Jahre reduziert. 1974 begnadigte ihn ein US-Bundesgericht. Calleys Vorgesetzte – er hatte ausgesagt, auf Befehl gehandelt zu haben – wurden nie angeklagt. Andere Soldaten durften den Militärdienst noch während der Ermittlungen quittieren, um einer Anklage zu entgehen.

Exemplarisch ist ebenso der Skandal um die Kriegsverbrechen der berüchtigten „Tiger Force“, die im Oktober 2003 noch einmal für Schlagzeilen in den USA sorgte. Die Zeitung Toledo Blade aus Ohio hatte mehrere Monate in den Archiven des Pentagon recherchiert und enthüllt, dass der Elite-Einheit vorgeworfen wurde, im Jahr 1967 über einen Zeitraum von sieben Monaten an der Tötung von bis zu 100 Zivilisten, systematischen Vergewaltigungen, Gefangenenfolter und Leichenschändung beteiligt gewesen zu sein. Nach vier Jahren Ermittlung kam das Verteidigungsministerium damals zu dem Schluss, dass 18 Soldaten an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Keinem, selbst noch aktiven Soldaten, wurde je der Prozess gemacht. Das Pentagon weigerte sich vergangenen Herbst, die Fälle neu aufzurollen.