Freien Lauf den Spiegeleffekten!

Cannes Cannes I: Heute beginnt das Filmfestival in Cannes. Pedro Almodóvar ist der Regisseur des Eröffnungsfilms

„Soll man schreiben über Cannes?“ Unter dieser Überschrift erschien im Juli 1969 in der Zeitschrift Filmkritik ein transkribiertes Gespräch, in dem sich Frieda Grafe, Urs Jenny und Enno Patalas über Sinn und Unsinn der Festivalberichterstattung austauschten. Jenny: „Ich finde sowieso, dass das Erzählen über Filme, diese halbfeuilletonistische Art der Berichterstattung, dass das keine Einsicht vermittelt.“ Wenig später Grafe: „Die einzige Konsequenz daraus, dass man auf so kleinem Raum doch keine Beweise bringen kann, ist, dass man den Leuten einfach seine Meinung um die Ohren schlägt, ohne große Begründungen.“ Und noch einmal Grafe, etwas milder: „Wir sollten uns entschließen, die Zwischenträgerfunktion, die wir als Schreiber in Zeitungen und Zeitschriften haben, mit gewissen Vorbehalten zu akzeptieren und uns sagen, vielleicht, wenn wir auf einen Film Appetit machen, bekommt er dadurch eine Chance, dass ein Verleiher ihn nimmt.“ Und Jenny, pessimistisch: „Natürlich, an solchen Illusionen rankt man sich hoch, aber sehr realistisch sind sie ja nicht.“

Hätten Filmkritiker heute noch so viel Lust an der Reflexion der eigenen Rolle wie die drei Autoren vor 36 Jahren, sie könnten eine identische Diskussion führen. Woran es fehlt in den elf Tagen des heute beginnenden Festivals, ist Zeit. Da es unter den gestressten Festivalbesuchern in Mode gekommen ist, schon nach der ersten Viertelstunde einer Vorführung zu wissen, was von dem Film zu halten ist, fallen die Urteile wie Fallbeile. Und wer genug Geduld hat, sich João Monteiros dreistündigen Abschiedsfilm „Vai e vem“ anzusehen, der kommt sich etwas altmodisch vor: hoffnungslos Sechziger.

Aber das war im letzten Jahr, dem Jahr, an das sich niemand gern erinnert. In diesem Jahr nun haben die Festivalleiter Gilles Jacob und Thierry Frémaux das Richtige getan und das Wettbewerbsprogramm aufregend asiatisch gestaltet. 18 Filme konkurrieren um die Goldene Palme, ein Drittel davon kommt aus Asien. Zum Beispiel hat es Wong Kar-Wai endlich geschafft, „2046“, seinen ersten Film nach „In the Mood for Love“, fertig zu stellen. Und dann gibt es noch „Tropical Malady“, den neuen Film des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, dessen „Blissfully Yours“ so lange, statische Einstellungen hatte, dass ein anderer Regisseur klagte: „Das ist Malerei, das ist kein Film.“ Wunderschön war „Blissfully Yours“ dennoch.

Den Eröffnungsabend bestreitet Pedro Almodóvar mit „La mala educación“ („Die schlechte Erziehung“). Der Film ist kein der Gegenwart angepasstes Melodram wie „Sprich mit ihr“, sondern ein Film noir mit drei verschiedenen Zeitebenen – Anfang der Sechziger, 1977 und Anfang der Achtziger – und mit Figuren, die selten mit sich selbst identisch sind. Es geht um Missbrauch in einem katholischen Internat. Doch ist dies nur ein Teil des verschachtelten Plots und nichts, was aus dem Film eine moralische Anklage machte.

Stattdessen hat Almodóvar seiner Vorliebe für Spiegeleffekte freien Lauf gelassen. „La mala educación“ spiegelt sich in der Filmgeschichte, und im selben Maße spiegeln sich im Film selbst die Figurenkonstellationen und Zeitebenen wechselseitig. Das wird verstärkt, da „La mala educación“ der ersten Ebene der Narration zwei weitere zur Seite stellt: einen Film im Film und eine Erzählung namens „Der Besuch“, die wiederum als Drehbuchvorlage für den Film im Film dient. Wenn Ihnen das Schwindel erregend vorkommt, dann ist das sicherlich im Sinne der Regie. Es nimmt auch nicht Wunder, dass viele Aufnahmen wirken, als seien sie collagiert. Denn so wie die disparaten Teile dieser Bilder über- und nebeneinander gelegt werden, so verfährt auch „La mala educación“ mit den unterschiedlichen Ebenen. Eine Auflösung gibt es schließlich doch, und vielleicht ist dies der einzige Wermutstropfen in diesem schönen Film: So sehr gibt er auf den Fortgang seines komplizierten Plots Acht, dass er darüber die Anmut der zweckfreien Abschweifung vergisst. CRISTINA NORD