Schock und Aufklärung

Das Leiden der Gefangenen betrachten: Die Fotografien aus Abu Ghraib waren selbst Instrumente der Folter. Nun aber kehrt sich die Macht der Fotos gegen die Folterer. Über die Kraft von Bildern im Krieg

VON SEBASTIAN MOLL

Jeder Krieg ist mit emblematischen Bildern in jenem Archiv von Schnappschüssen vertreten, das wir das kollektive Gedächtnis nennen. Im Spanischen Bürgerkrieg war es das Foto des fallenden republikanischen Soldaten von Robert Capa; im Vietnamkrieg war es das Foto von Huynah Cong Ut, das zeigte, wie schreiende nackte Kinder aus einem mit Napalm bombardierten Dorf fliehen. Beim Ersten Weltkrieg sind es die Bilder, die Ernst Friedrich 1924 in „Krieg dem Kriege“ zusammengetragen hat, darunter insbesondere die Fotos von schweren Gesichtsverletzungen in dem doppeldeutig betitelten Kapitel „Das Gesicht des Krieges“. Die am weitesten verbreiteten Andenken an den Zweiten Weltkrieg sind sicherlich die Bilder aus den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau, welche die Befreier geschossen haben, sowie das Bild des russischen Soldaten, der 1945 die rote Fahne auf dem Reichstag hisst. Den Irakkrieg zu historisieren ist sicherlich zu früh, doch eines ist gewiss: Das Bild eines Gefangenen in einem Kapuzenumhang, der im Gefängnis von Abu Ghraib auf einer Kiste steht und an Elektroden angeschlossen ist, wird eines der bleibenden Bilder dieses Konflikts werden.

Wir wissen von vielen Fotografien, die den Status als Sinnbilder historischer Ereignisse angenommen haben, dass sie gestellt wurden. Schon der erste moderne Kriegsfotograf, Matthew Brady, der im Auftrag von Abraham Lincoln persönlich den amerikanischen Bürgerkrieg dokumentierte, drapierte Leichen und Kriegsutensilien zu Tableaux zurecht, um kalkulierte Effekte zu erzielen. Einige der Fotos aus Abu Ghraib – darunter der gefolterte Kapuzenmann – treiben diese Neigung zur Inszenierung auf die Spitze. Nackte irakische Gefangene werden zu einer Pyramide aufgehäuft; dahinter steht mit verschränkten Armen ein grinsender amerikanischer Wärter wie ein Konditor, der eine besonders gelungene Torte präsentiert. Ein besonders kräftiger Gefangener liegt auf einem anderen Bild nackt auf dem Bauch, ein Soldat posiert auf dessen Rücken sitzend wie ein Jäger mit einem kapitalen Stück Rotwild. Von dem pornografischen Foto der amerikanischen Soldatin, die einen nackten Iraker an der Leine führt, ganz zu schweigen. In Seymour Hershs Artikel in der aktuellen Ausgabe des New Yorker kommt ein Gefangener zu Wort, der berichtet, wie er gewaltsam zum Masturbieren gezwungen wurde, während Kameras auf ihn gerichtet waren.

Teil der Entmenschlichung

Zu Matthew Bradys Zeiten wurde nachgeholfen, um den Effekt zu verstärken, den die Fotografie hat – jene Schockwirkung, die Walter Benjamin scharfsinnig als das Eigentliche des Mediums diagnostizierte. Die Inszenierungen von Abu Ghraib sind jedoch nicht bloß Überspitzungen des Geschehenen, die ihnen einen Vorteil im harten Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf dem Bildermarkt verschaffen sollen. Vielmehr ist die Fotografie Teil des Geschehenen. „Das Fotografieren der Gefangenen“, schreibt Seymour Hersh im New Yorker, „war nicht zufällig, sondern Teil des Prozesses der Entmenschlichung.“

Dafür, dass die Fotografie als Instrument der Folter eingesetzt wurde, sprechen auch die Aussagen von einem der Folterer, einem Sergeant Frederick. Frederick gestand seinem Onkel, dass die Fotos anderen Gefangenen gezeigt werden sollten, um zu verdeutlichen, dass das, was sie da sehen, auch ihnen widerfahren kann. Damit, so Frederick, sollten die Neuankömmlinge „psychologisch aufgelockert werden“ – ein innermilitärischer Euphemismus, der ansonsten für Befragung unter Folter verwendet wird. Klar ist, so schlecht ausgebildet und unreif die Folterer von Abu Ghraib gewesen sein mögen, sie wussten um die Macht der Bilder. In einer Armee, die dafür sorgt, dass die Speicher der MP3-Player ihrer Soldaten regelmäßig mit neuen Songs gefüttert werden und die DVDs für die Schlachtpause liefert, mag nicht viel Wissen über das Land und die Kultur des Gegners im Umlauf sein. Dafür umso genauere Kenntnisse über die Wirkweise der Medien.

Die Macht des Fotos, ihre Schockwirkung, besteht in ihrer irreduziblen Evidenz. Es ist, wie Benjamin und Roland Barthes betonten, die wortwörtliche Spur des über Zeit und Raum transportierten Lichts, die das Foto so unwiderstehlich macht. Deshalb ist das Foto dem Tod und der Grausamkeit so nahe. Es bringt uns den Toten als noch Lebenden zurück – erzeugt, wie Barthes schreibt, im Betrachter jene eigenartig paradoxe Zeiterfahrung des „Dieser Abgebildete ist gestorben und gleichzeitig: Er wird sterben“. Deshalb ist das Foto in der Darstellung von Grausamkeit auch von keinem anderen Medium erreicht: „Das Foto lässt sich gar nicht erst auf Diskussionen darüber ein, wie viele Tote es denn genau gegeben hat. Stattdessen liefert das Foto eine Probe der Grausamkeit aus erster Hand“, schreibt Susan Sontag in ihrem Essay aus dem vergangenen Jahr: „Das Leiden anderer betrachten“. Die Meldung, dass seinerzeit weit weniger Palästinenser beim israelischen Angriff auf das Flüchtlingslager von Dschenin starben, als von den palästinensischen Behörden behauptet, illustriert Sontag ihr Argument, ging neben den Fotos des verwüsteten Lagers völlig unter.

Die Folterer von Abu Ghraib setzten das Foto als Mittel der Folter im doppelten Sinn ein. Das Foto von Grausamkeiten ist eine wirksame Androhung von Folter – und als solche so wirksam wie Gewalt selbst, vielleicht wirksamer. Und das Fotografieren der Opfer fügt ihrem Leid eine zusätzliche Dimension der Grausamkeit hinzu – ihre Erniedrigung wird einer unkontrollierbar wuchernden Zuschauerschaft zugänglich gemacht.

Die nackte Evidenz des Fotos, so die Fototheorie von Barthes bis Sontag, sagt nichts über seine Bedeutung aus – das Foto braucht die Bildunterschrift. Die rhetorische Kraft eines Fotos kann beinahe beliebig eingesetzt werden, je nachdem in welchen politischen oder ideologischen Kontext man es stellt. Das gerät nun den Folterern von Abu Ghraib zum Verhängnis. Die Evidenz der Grausamkeit schockiert nicht mehr nur die Häftlinge von Abu Ghraib, sondern die ganze Welt. Die Bildunterschrift lautet nun nicht mehr, an die Gefangenen gerichtet: „Schau, das kann dir passieren!“, sondern sie richtet sich an die Weltöffentlichkeit und lautet: „Amerikaner sind Folterer.“ Die Bush-Regierung steht vor einer irreparablen Situation. Seitdem die Fotos dem Fernsehsender CBS in die Hände fielen, kann die US-Regierung nur noch den Weg der Transparenz und Aufklärung gehen, doch dieser Weg wird ihr garantiert weiter schaden: „Ich bin mir nicht sicher, ob es in dieser Situation noch irgendeine Strategie geben kann, die den Schaden begrenzt“, sagte ein anonymes Mitglied der Regierung der New York Times.

Dass es ausgerechnet Fotografien sind, die nun endgültig drohen, die Regierung Bush in eine ausweglose Enge zu treiben, dürfte Verteidigern der Macht des Fotos eine große Befriedigung verschaffen. Sontags Aufsatz „Das Leiden anderer betrachten“ war auch eine Polemik gegen Postmodernisten vom Schlage eines Jean Baudrillard, die schon lange den Tod des Realen predigen. Sontag findet eine solche Diagnose sowohl „dekadent“ als auch „provinziell“. Es mag sein, so Sontag, dass wir gegenüber dem Realen abgestumpft sind; aber es existiert. Und mittels der Fotografie drängt es sich uns auf. Die Evidenz der Fotografie schockiert weiterhin, gleich in welche korrupten Kontexte sie gestellt wird, gleich wie übersättigt wir von Darstellungen von Grausamkeit sind.

Das Reale kehrt zurück

Oft ist der 11. September als der Termin bezeichnet worden, an dem das Reale in die westliche Welt zurückgekehrt sei. Fest steht, dass es der Termin war, zu dem die dokumentarische Fotografie ein Comeback startete. Die Ausstellung in einer Galerie in Soho, „Here is New York“ im Herbst 2001, in der jeder New Yorker sein privates Foto vom 11. September ausstellen konnte, war einer der erfolgreichsten frühen Versuche, mit dem Ereignis zurechtzukommen. Die Fotos waren greifbarer, realer, näher als die filmische Endlosschleife des Anschlags auf CNN.

Zur gleichen Zeit formierten sich sieben unabhängige Fotojournalisten zur Gruppe VII, darunter Antonin Kratochvil, James Nachtwey und Alexandra Boulat. Sie haben die Kriege von Afghanistan und Irak begleitet und stellen derzeit ihre Arbeit im International Center of Photography an der 6th Avenue aus. Das ICP ist eine ehrwürdige Kunstinstitution, doch die Stoßrichtung der Ausstellung ist unverhohlen polemisch und politisch. Auf dem Rücken des Schocks wird in ausführlichen Bildunterschriften die Empörung über die Ignoranz der Invasoren, die Fassungslosigkeit über deren ideologische Verblendung transportiert.

Sicherlich, das kultivierte Studieren der übergroßen Kriegsfotos im Museum nimmt ihnen ihren Biss. Das ist das Schicksal von Bildern des Grauens – gleich wo sie im Westen auftauchen, sie stehen immer in einem unangemessenen Zusammenhang. Das ikonische Foto des sterbenden republikanischen Soldaten von Robert Capa erschien 1937 im Magazin Life gegenüber einer Werbung für Haarcreme. Dem Spuk der Bilder, die sich im Bewusstsein festsetzten wie ein Parasit, tut dies jedoch keinen Abbruch. Den Spuk der Bilder aus Abu Ghraib in allen Magazinen und Zeitungen der Welt wird George W. Bush jedenfalls ganz sicher nicht wieder los.