„Eine Lizenz zum Töten der Zivilbevölkerung“

Ein Geschworenengericht in Rostow bestätigt den Freispruch von vier russischen Soldaten. Sie hatten im Januar 2002 fünf Tschetschenen nach deren Freilassung erschossen. Militärstaatsanwaltschaft erwägt eine Revision des Verfahrens

MOSKAU taz ■ Eine Frau und vier Männer hocken in einem Erdloch in der Nähe von Schatoi in den Bergen Tschetscheniens. Es ist der 11. Januar 2002. Vier Soldaten der 641. Sondereinheit aus Nowosibirsk bewachen sie, die Truppe ist eine Spezialeinheit der militärischen Aufklärung GRU. Die Tschetschenen waren mit einem Jeep unterwegs und anfangs noch zu sechst. Der Direktor der Schule aus Schatoi, Said Alaschanow, liegt im Jeep, er starb im Kugelhagel der Militärs, die von hinten das Feuer eröffneten, weil der Wagen angeblich trotz Warnung nicht gehalten hatte.

Dass ihnen keine Terroristen ins Netz gegangen waren, merkten die Aufklärer bald. Sie sollten den saudi-jordanischen Söldnerführer und Wahhabiten Chattab aufspüren, der die islamistische Hilfe aufseiten der tschetschenischen Rebellen koordinierte. Zumindest gaben sie das vor Gericht in Rostow am Don zu Protokoll, wo der Fall der „Gruppe Ulman“ über Monate verhandelt wurde. Am Dienstag bestätigte selbiges Gericht den Freispruch der Angeklagten.

Hauptmann Eduard Ulman setzte sich nach dem tödlichen Irrtum mit seinem Vorgesetzten, Major Perelewski, im Stab in Verbindung, der in Rostow mit auf der Anklagebank saß. „Einer kalt, fünf warm, was tun?“, soll Ulman über Funk gefragt haben. „Hauptmann, Sie haben nicht einen ‚200er‘ (Militärjargon für eine Leiche), „sondern sechs ‚200er‘ “, lautete die Befehlsanweisung aus dem Stab.

Die Militärs entschuldigen sich bei den Arrestierten und entlassen sie mit dem Hinweis, sie seien frei. Auf dem Weg zum Jeep werden die Freigelassenen meuchlings erschossen, darunter die behinderte Mutter von vier Kindern, Sainap Dschawatchanowa. Danach schleppen die Militärs die Leichen zum Wagen und stecken ihn in Brand.

Die Anklage lautete auf Mord. Die Angeklagten stritten die Tat auch nicht ab, ohne indes ein Schuldgeständnis abzulegen. Die Verteidigung argumentierte, die Soldaten hätten nur auf Weisung gehandelt und einen Befehl ausgeführt, wie es die Dienstvorschrift der Streitkräfte vorsieht. Dass sich ein internes Dienststatut nicht auf die Behandlung von Zivilpersonen ausdehnen lässt, wurde außer Acht gelassen. Wer letztlich den Befehl erteilt hatte, stellte das Gericht ebenfalls nicht fest. Die Angeklagten äußerten sich dazu nicht. Die Aussage eines weiteren GRU-Offiziers lag dem Gericht aber vor, der nach Ulmans Rückkehr von der Mission im Stab gehört haben will, wie dieser den Major Perelewski dafür verantwortlich gemacht hatte.

Das Geschworenengericht in Rostow folgte der Begründung der Verteidigung und sprach die Angeklagten Ende April frei. Ludmila Tichomirowa, die Anwältin der Opfer, hält die jetzige Bestätigung des Freispruchs für ein fatales Fehlurteil: „Praktisch ist es eine Lizenz zum Töten der Zivilbevölkerung, das suggeriert, man kann jeden in Tschetschenien töten, ohne mit Vergeltung rechnen zu müssen.“ Selbst der Militärstaatsanwaltschaft scheint der Freispruch zu weit zu gehen. Sie wollte durch eine exemplarische Anklage Vorwürfen entgegentreten, Verbrechen der eigenen Seite nicht zu ahnden.

Eine Revision des Verfahrens ist daher nicht ausgeschlossen. Die Verhandlung vor einem Geschworenengericht hat noch eine schmerzliche Erkenntnis befördert. Die junge Einrichtung von Geschworenengerichten erfüllt anscheinend nicht die ihr zugedachte Funktion: die Rechtsprechung mit einem höheren Maß an Ausgewogenheit und Gerechtigkeit auszustatten und die Interessen des Bürgers gegenüber dem Staat zu stärken.

Das Urteil hat vielmehr gezeigt, dass die Jury sich nicht von Recht und Gesetz leiten ließ, sondern von einem seit Jahren geschürten Hass und Rassismus gegenüber nichtslawischen Mitbürgern. Die Geschworenen handelten nach dem Prinzip: „naschy und nje naschy“ – die Täter sind „unsere“ Leute, die Opfer Fremde.

Die Saat des Tschetschenienkrieges geht auf, der Krieg hat die russische Gesellschaft erreicht. Nach der Verlesung des Urteils begleitete die Jury ihre Entscheidung mit anhaltendem Beifall. KLAUS-HELGE DONATH