Der Offenbarungseid

Nach Protesten gegen die Reform des Hauptstadtkulturfonds sucht Christina Weiss den Dialog. Kritiker sehen die Interessen des Bundes über die der lokalen Szene triumphieren

Kulturstaatsministerin Christina Weiss verschickt seit heute Post an rund 120 deutsche und internationale Kunstschaffende, darunter Ulrike Ottinger und Sasha Waltz, Daniel Barenboim und Salman Rushdie, um mit einem „gründlichen Missverständnis aufzuräumen“. Das Missverständnis besteht aus Sicht der Kulturstaatsministerin darin, dass die Künstler nicht allein „die Freiheit der Kunst in Berlin bedroht sehen“. Der „absurde Vorwurf“ gipfle darin, die jetzige Reform des Hauptstadtkulturfonds unterminiere die bisherige erfolgreiche kulturelle Förderstruktur des Bundes in Berlin. Ebenso falsch, poltert Weiss weiter, ist, dass zwischen ihr und der langjährigen Kuratorin Adrienne Goehler „Machtkämpfe“ ausgetragen würden. Die Neuordnung des Gremiums, das jährlich rund 10 Millionen Euro für Berliner Kulturprojekte ausschüttet und nun der Kuratorin kein Stimmrecht in dem Entscheidungsausschuss mehr gewährt, sei „ein abgestimmter Prozess zwischen Berlin und den Bund“, schreibt Weiss „mit freundlichen Grüßen“.

Ob die Adressaten sich mit dem Schreiben zufrieden geben und ihren Protest angesichts eines puren „Missverständnisses“ wegen einstellen werden, muss bezweifelt werden. Sind doch das Verfahren und die Folgen für die Berliner Kulturszene äußerst fragwürdig.

Über die Vergabepraxis des Förderfonds für Tanzprojekte, freie Theatergruppen, Ausstellungen oder Musikaufführungen entscheidet zukünftig ein aus jeweils zwei Vertretern des Bundes und des Landes besetztes Gremium „im Konsens“ – statt wie bisher ein Beirat sowie die Kuratorin Goehler selbst. Warum diese Struktur besser als die vorhandene, nahe an den Künstlern und deren Interessen arbeitende sein soll, ist nur allzu durchsichtig. Darüber hinaus stellt die Umstrukturierung einen „Affront gegen die qualifizierte Arbeit der Kuratorin und des Beirats dar“, sagt Amelie Deuflhard, Leiterin des Tanzhauses Sofiensæle.

Nicht vom Tisch ist jedenfalls die Kritik, die Kulturstaatsministerin habe mit dem Stimmentzug Goehlers auf deren Engagement für die umstrittene RAF-Ausstellung in den KunstWerken, einem Ausstellungshaus für moderne Kunst, reagiert. Goehler hatte 2003 dem umstrittenen Projekt 100.000 Euro aus dem Fonds versprochen.

Des Pudels Kern vermuten die Kritiker der „Kulturfondsreform“ in ihrer Auswirkungen auf die freie Szene. Hatten der Beirat und die entmachtete Leiterin bisher ihr Förderaugenmerk besonders auf die Kunstszene und deren ungewöhnliche Projekte gerichtet, steht die neue Jury in Verdacht, sich mehr den Leuchttürmen der Berliner Kultur – sprich den großen hauptstädtischen Kulturinstitutionen – verpflichtet zu fühlen. Die Begehrlichkeiten von Weiss für repräsentative Berliner Kulturinstitutionen – wie die Akademie der Künste oder die NS-Dokumentationsstätte „Topographie des Terrors“ – ist bekannt. Die Reform interpretiert die grüne Kulturexpertin Alice Ströver denn auch als Offenbarungseid gegenüber den Berliner Kulturinteressen zugunsten denen des Bundes.

ROLF LAUTENSCHLÄGER