„Es geht um den Kampf für den Sozialstaat“, sagt Bodo Zeuner

Studenten gegen Familien, Junge gegen Alte – das sind falsche Fronten. Es geht um einen intakten, aktiven Staat

taz: Herr Zeuner, am 3. April demonstrierten eine halbe Million Menschen für mehr soziale Gerechtigkeit. An diesem Wochenende findet in Berlin ein großer Perspektivenkongress statt, organisiert unter anderem von Ver.di und Attac. Gibt es eine neue linke Bewegung?

Bodo Zeuner: Den Perspektivenkongress betrachte ich als Test, um zu sehen, wie viele Gemeinsamkeiten da sind. Bei den Demonstrationen war das Spektrum der Teilnehmer ja breit: Es reicht von jüngeren Anhängern von Attac über Metall-Betriebsräte bis hin zu Krankenschwestern, die in Ver.di organisiert sind, und Rentnern. Zudem gibt es noch Leute wie mich, die materiell von der Sozialpolitik nicht sehr stark persönlich betroffen sind, die jedoch ihre Grundwerte von Freiheit, Humanität und Gerechtigkeit durch die gegenwärtige Politik in Deutschland bedroht sehen.

Können sich die Protestierenden überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner einigen?

Ein gemeinsames Interesse ist der Protest dagegen, dass die öffentlichen Mittel und die sozialen Leistungen immer mehr verknappt werden. Und die Leute werden jetzt auch noch gegeneinander ausgespielt. Man sagt beispielsweise den Studenten: Wenn ihr mehr Geld wollt für die Universität, dann müssen wir bei den Kindergärten sparen, dann seid ihr gegen die Familien. Das ist absurd.

Aber es ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen, dass in den öffentlichen Haushaltskassen ziemliche Ebbe herrscht. Woher sollen die öffentlichen Mittel denn kommen?

Der Staat muss mehr Steuern einnehmen von denen, die Steuern zahlen können. Der Anteil der Gewinnsteuern und der Beitrag der Besserverdienenden zum Steueraufkommen ist in den letzten Jahren drastisch gesunken. Und bei der Erbschaftsteuer liegen unsere Sätze unter denen in den Vereinigten Staaten. Dort gibt es übrigens auch Vermögensteuern.

Die Wirtschaft argumentiert, höhere Steuern schädigten die Konjunktur und damit auch den Arbeitsmarkt.

Das Argument mit den Arbeitsplätzen ist ein Totschlagargument und zudem völlig unbewiesen. Deutschland ist ein Niedrigsteuerland und liegt im internationalen Vergleich auch bei der Staatsquote im Mittelfeld. Es kommt hinzu: Die Staatsquote immer als Belastungsquote hinzustellen ist hoch ideologisch – so als wären wir dadurch belastet, dass wir öffentliche Schulen haben.

Es ist aber doch nicht von der Hand zu weisen, dass wir, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit, zu wenig Geld in den öffentlichen Haushalten und in den Sozialversicherungssystemen haben.

Es stimmt, wir haben ein Problem mit den Einnahmen. Das ließe sich aber ändern, wenn die Politik es nur wollte. Genügend Vorschläge dazu gibt es ja: beispielsweise die Finanzierung der Sicherungssysteme nicht mehr so stark an den Arbeitslohn zu koppeln, sondern mehr an die Steuern. Die Gewinn- , Erbschaft- und Vermögensteuern habe ich ja genannt. Außerdem gibt es den Vorschlag einer Bürgerversicherung, also für die Finanzierung der Krankenversicherung beispielsweise auch Miet- und Zinseinkünfte heranzuziehen.

Viele rot-grüne Sozialpolitiker sagen, es gibt inzwischen auch ein Verteilungsproblem zwischen den Jüngeren und den Älteren, etwa in der Rentenversicherung.

Dieses Gerede vom Kampf der Generationen ist mir einfach zu undifferenziert. Denn auch die Jüngeren liegen ja häufig bis zum Alter von 25 Jahren der mittleren Generation auf der Tasche – und das ist auch vernünftig. Im Übrigen gibt es ja auch das durchaus richtige Argument, dass investive Staatsausgaben durchaus mit den Zinsen derer, denen sie nützen, also der Jüngeren, zu bezahlen sind.

Heißt das, Sie sind für eine höhere Staatsverschuldung, wie sie auch die Gewerkschaften fordern?

Das ist schwierig. Im Falle einer höheren Staatsverschuldung gibt es nämlich auch Gewinner und Verlierer. Derjenige, der beispielsweise Staatspapiere erbt, der hat später durch die Zinszahlung einen Vorteil. Eine höhere Staatsverschuldung ist immer nur die zweitbeste Lösung, um öffentliche Aufgaben zu finanzieren. Denn die Verschuldung bringt immer die Gefahr mit sich, dass sich die sozialen Ungleichgewichte erhöhen.

In der Sozialpolitik werden gegenwärtig viele Ressentiments verkocht, beispielsweise der Erwerbstätigen gegenüber den angeblich faulen Arbeitslosen, dann hegen Westdeutsche gegenüber Ostdeutschen viele Vorurteile und umgekehrt. Und überhaupt fürchten viele Deutsche ein Lohndumping durch die Konkurrenz aus dem Osten im Zuge der EU-Erweiterung.

Ich mache mit Kollegen gerade ein Forschungsprojekt über Rechtsextremismus unter Gewerkschaftsmitgliedern. Deutlich ist, dass allgemeine Verunsicherung herrscht über die Frage: Kann ich künftig noch von meiner Arbeit leben? Diese Verunsicherung war noch nie so groß wie heute, und deshalb machen wir die Erfahrung, dass auch Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht gegen Rechtsextremismus immunisiert. Wenn Demagogen nur ein paar einfache Erklärungen liefern, die scheinbar mehr Sicherheit geben, dann setzt leider bei manchen der Verstand aus. Dem muss man entgegenwirken. Unter anderem durch diesen Perspektivenkongress.INTERVIEW: BARBARA DRIBBUSCH