WER FOLTER VERTEIDIGT, IST NICHT DUMM, SONDERN GEFÄHRLICH
: Die Entgrenzung der Moral

Folter hat wieder Konjunktur. Den gefährlichsten Aufschwung erfährt die Menschenquälerei jedoch nicht im Gefängnis von Abu Ghraib, sondern in den Köpfen mancher Politiker und Intellektueller im Westen. Der Münchner Professor Michael Wolffsohn steht keineswegs alleine mit seinem Anstoß, Folter für legitim zu erklären. Im Umfeld der US-Regierung sympathisieren eine Reihe von Denkern mit der Auffassung, die neue Lage erfordere neue Gesetze. Sie wissen viele Amtsträger der Bush-Administration auf ihrer Seite, die das nicht sagen, aber danach handeln. Es wäre daher ebenso falsch, die Macht der Verfechter der Folterfreiheit zu unterschätzen wie die Wucht ihrer Argumente. Der Verweis auf Grundgesetz oder Menschenrechtscharta alleine reicht zur Abwehr dieser Vorstöße nicht aus. Gerade wer Folter unter allen Umständen ablehnt, muss ein Interesse daran haben, das Folterverbot immer wieder aufs Neue zu verteidigen – und es unter sich ändernden Umständen neu zu begründen.

Zu den geistigen Wegbereitern einer Linie, die den Rechtsstaat für Terroristen aufgehoben sehen möchte, gehören etwa Joshua Muravchik vom American Enterprise Institute in Washington oder George Bushs Ideologie-Botschafter in Berlin, Jeff Gedmin. Ohne das Wort Folter zu benutzen – und kurz vor Veröffentlichung der Fotos aus Abu Ghraib – schrieb Gedmin: „Im Krieg gegen den Terror wollen wir alle gern den Rechtsstaat schützen und die Freiheitsrechte bewahren. Aber sollen wir nicht langsam einmal das Moralisieren einstellen und die ernste und quälende Debatte darüber führen, wann das Gesetz der aktuellen Lage angepasst wird?“ Die Gefahr von Wolffsohns wie Gedmins Argument liegt nicht darin, dass es dumm ist, sondern amoralisch. Deshalb wird es von Menschen geteilt, die nicht dumm sind, sondern gefährlich.

Angelpunkt der Folterrelativisten ist die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Damit knüpfen sie an den Topos eines politischen Idealismus an, wie es auch Linken nicht fremd ist – dass nämlich neue Bedrohungen auch neue Antworten erfordern. So hat etwa die Ökologiebewegung ihren Ruf nach absolutem Vorrang für die Umweltpolitik damit begründet, dass der existenziellen Gefahr für den Planeten nicht mit einem „Weiter so“ begegnet werden dürfe. Die Integrität dieser prinzipiellen Überlegung wird jedoch von den Folteranwälten pervertiert. Mit ihren Argumenten für eine Lockerung des Folterverbotes in Zeiten des Antiterrorkampfes unterwerfen sie das Prinzip der Humanität dem Kalkül des Nutzens. Sie führen in die politische Debatte eine undenkbare Frage ein: Was bringt es, menschlich mit Unmenschen umzugehen? Damit überschreiten sie die Grenze zum geistigen Totalitarismus. Sie stellen den Wert des menschlichen Maßes für die Politik in Frage – das Individuum und seine Rechte werden zur Variable im Bruchrechnen des Antiterrorkampfes: Wird das Leid der Gefolterten nicht aufgewogen durch den Segen, den die Folter bringt – an Informationen über Anschläge oder als psychologische Waffe zur Demoralisierung der Gegner?

Wer anfängt, so zu rechnen, der findet kein Ende. Dieses Denken kennt keine Grenzen mehr im Kampf für die eigene Sache. Es ist total in seinem Anspruch, die Welt nach eigenem Gutdünken zu scheiden in die Guten von den Bösen. Dahinter steht die Hybris, wissen zu können, wann der Schutz der vielen das Opfern der wenigen erfordert. Insofern ist Folter nicht nur Ausfluss von moralischer Hemmungslosigkeit, sie befördert auch die Entgrenzung der Moral. Der Folter wohnt der Exzess inne, das zeigten zuletzt wieder die Vorgänge im Foltergefängnis Abu Ghraib.

Weil ihre Verteidiger das wissen, operieren sie mit einem Versprechen, das im besten Falle Selbstbetrug ist – und häufiger vorsätzliche Täuschung: Die intellektuellen Wegbereiter der Folter behaupten, Menschenquälerei lasse sich begrenzen – auf wenige Opfer, wenige Werkzeuge, wenige Vergehen. Doch wer die Grenze der menschlichen Unverletzlichkeit im Grundsatz nicht respektiert, der kann sie auch im Einzelnen nicht achten.

So brauchte die Welt offenbar den Schock von Abu Ghraib, um die Infamie von Guantanamo Bay zu verstehen. Erst die Bilder vor aller Augen riefen der Öffentlichkeit ins Bewusstsein, was sie in Worten schon lange vorher hatte lesen können: Hier erhebt sich der Mensch über den Menschen, ohne dass das Recht darüber wacht. Damit zeigt die Folterdebatte auch, wie groß die Verführung ist, Politik am Prinzip des Nutzens allein auszurichten. Der Weg wurde oft beschrieben und doch halfen die Warnungen wenig: Wer alleine handelt, macht nicht nur seine Fehler alleine, er macht auch mehr davon, denn er verliert den Maßstab, den alle Macht braucht. Wenn eine Großmacht beginnt, alleine bestimmen zu wollen, wann sie Kriege führt, sind nicht nur ihre Opfer verloren, sie selbst ist es auch. Die Folter ist der Zwilling von George Bushs Präventivdoktrin. PATRIK SCHWARZ