Verzweifelt unangemessen

Preziosen aus Stahlgewittern: Die Ausstellung „Der Weltkrieg 1914–1918“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin drückt sich mit edlen Vitrinen um die Wirklichkeit der Vernichtung herum

VON CHRISTIAN SEMLER

Wie soll man sich als Ausstellungsmacher einem so grauenhaften Geschehen wie dem Ersten Weltkrieg zuwenden? Die Museologen um Rainer Rother, die nun im Deutschen Historischen Museum in Berlin die große Ausstellung „Der Weltkrieg 1914–1918“ zeigen, wollten weder die politische noch die militärische Geschichte des Krieges nachzeichnen. Kein Krieg zum Nachspielen wie im Londoner Imperial War Museum, keine Inszenierungen nach dem Vorbild der glücklicherweise fast völlig verschwundenen Kriegspanoramen. Wer die Ereignisgeschichte nachvollziehen will, wird auf die filmischen und sonstigen dokumentarischen Materialien verwiesen, die der Ausstellung beigefügt sind.

Stattdessen sollten die 650 Exponate aus 22 Ländern ihre Geschichte erzählen; aus ihrer Zusammenschau soll für den Zuschauer eine dichte Beschreibung jener vier Jahre entstehen, die der Historiker und Diplomat George Kennan völlig zu Recht als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gekennzeichnet hat. Den Ausstellungsmachern ist es hierbei gelungen, jede Verengung des Themas auf den spezifisch deutschen beziehungsweise mitteleuropäischen Aspekt zu vermeiden, sie haben, sehr zum Vorteil der Ausstellung, den „vergessenen Krieg“ an der russischen Front einbezogen, haben die unmittelbare Vorgeschichte des Krieges ebenso berücksichtigt wie seine für die kriegsführenden Länder höchst unterschiedlichen Folgen – bis hin zum Nazismus und zum Zweiten Weltkrieg, der mit dem Ersten so eng zusammenhängt, dass manche Historiker vom 30-jährigen Krieg 1914–1945 sprechen.

Die Ausstellung gliedert sich auf den beiden Ebenen des Pei-Museums in vier Kapitel: „Prolog“, „Erfahrung“, „Neuordnung“, „Erinnerung“, wobei das Kapitel „Erfahrung“ dem Kriegsgeschehen im engeren Sinne gewidmet ist. Letzteres Kapitel hat als Unterabteilungen „Material“, „Körper“ und „Psyche“, ganz so, als ob durch dieses abstrakte Kategorienschema der Weg auf die Schlachtbank des Ersten Weltkrieg nachvollzogen würde. Wer aber eine Visualisierung, wenigstens eine exemplarische Dokumentation des täglichen (und nächtlichen) Irrsinns an der Front erwartet hatte – des Trommelfeuers, des Vegetierens in den Schützengräben, des endlosen gegenseitigen Massakrierens im Kampf um ein paar Meter Geländegewinn, des absoluten Schreckens des Gaskriegs –, der wird bitter enttäuscht. Gleich Preziosen, gut ausgeleuchtet, in edlen Vitrinen, werden die Mordwerkzeuge ausgestellt. Was sagt uns die hölzerne Stützkonstruktion für einen Schützengraben? Nichts.

Dem Gaskrieg werden ganze zwei Exponate gewidmet. Dafür aber sehen wir – Dank seiner Witwe! – den Stahlhelm Ernst Jüngers, den er zusammen mit einem erbeuteten englischen Stahlhelm aus den „Stahlgewittern“ heimbrachte und bis zum Tod als Reliquie hütete. Oder das Gewehr eines kanadischen Infanteristen, in dessen Kolben patriotisch die Orte der Schlachten eingeritzt sind und das sich wunderbarerweise erhalten hat.

Mag sein, dass solche Trouvaillen das Herz des Museologen höher schlagen lassen. Aber: All dies ist der Wirklichkeit des Krieges verzweifelt unangemessen. Noch die ausgestellten Prothesen gleichen mehr einem Kunstwerk des Puppenzerlegers Hans Bellmer, als dass sie für die Massenverstümmlung stünden. Die Absicht der Aussteller, nicht Antikriegspropaganda zu machen, sondern die Exponate sprechen zu lassen, nicht argumentativ zu überwältigen, sondern zu „zeigen“, wie Walter Benjamin es sagte, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Alles ist so trefflich hergerichtet, so ästhetisch.

Glücklicherweise finden sich auch Ensembles, die der ursprünglichen Intention eher entsprechen: so die Collage der Brotmarken, der verschiedenen Lebernsmittelersatzprodukte, die ingeniöse Fahrradkonstruktion auf Spiralfedern, um Gummi zu sparen, die patriotischen, den Feind karikierenden Marionetten aus dem Münchener „Schichtl“. Das alles sind Beispiele für signifikante Objekte, die unsere Fantasie, unser Einfühlungsvermögen mobilisieren. Bezeichnenderweise wird hier die Welt der „Heimatfront“ heraufbeschworen, wo nicht Vernichtung und Tod, sondern Trauer und Mangel waltete.

Der zentrale Einwand, den man gegen die Ausstellung erheben muss, betrifft aber die Aussparung der politischen Seite des Kriegsunternehmens, genauer: der Aktivitäten gegen den Krieg, sei es spontan, durch Desertion oder Meuterei an der Front, sei es planvoll in der Heimat, durch Demonstrationen oder Streiks. Man erwidere nicht, hierfür hätten sich keine passenden Exponate gefunden. Mag sein, dass der Laternenpfahl auf dem Potsdamer Platz nicht mehr existiert, an den sich Karl Liebknecht am 1. Mai 1916 anklammerte und sein „Nieder mit dem Krieg“ in die Menge rief. Hunderte vergleichbarer Objekte haben überlebt.

Folgt man der Logik der Ausstellung, so hat es allerorten nur Kriegsbegeisterung gegeben, gefolgt von Ernüchterung und Apathie, nirgendwo aber Widerstand. Die Novemberrevolution, die Januarkämpfe, die mörderische Tätigkeit der Freikorps – alles nicht im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs, nicht ausstellungswürdig? Warum sind den führenden Kriegstreibern – und sei es auch in kritischer Absicht – Porträts gewidmet, nicht aber Sozialisten wie Jean Jaurès, der sein „Nein!“ zum Krieg wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit dem Leben bezahlen musste? Diese systematische Ausblendung hat Folgen: Statt kritisches Verstehen bietet die Ausstellung quietistische Trauer und konsequenzloses Eingedenken.

Bis 16. August, Katalog 25 €