Der Tag der Möchtegerns

Cannes Cannes (4): Nossiter erweist sich als Möchtergern-Michael-Moore, Kusturica als Möchtegern-Coppola

Merkwürdige Dinge geschehen. Ein Dokumentarfilm über Globalisierung im Weinanbau ist zwar laut Katalog außer Konkurrenz angesiedelt, wird aber von einem Tag auf den anderen in den Wettbewerb aufgenommen, ohne dass man sich erklären könnte, warum dies so ist. Für „Mondovino“ hat sich der US-amerikanische Filmemacher Jonathan Nossiter in französischen, kalifornischen und argentinischen Weinanbaugebieten umgeschaut. Er hat international agierende Winzer getroffen und Besitzer von kleinen Zwei-Hektar-Anbauflächen, er hat im Napa Valley erfolgreiche Neuwinzer aufgespürt und in französischen Weilern solche, deren Kellerei seit Generationen ein Familienbetrieb ist.

In den 158 Minuten des Films erfährt man allerdings nicht viel mehr als das Naheliegende: Die Großen haben keine Seele, die Kleinen umso mehr. Die Kamera wackelt durch die Gegend. Anstatt den suchenden, tastenden Blick nachzuahmen, von dem Abbas Kiarostami in „Ten on Ten“ sprach, folgt sie dem Zufallsprinzip, wenn sie an den Gesprächspartnern, den Weinbergen und den Auffahrten zu den Gütern entlangstreicht. Die Aufnahmen an den Toren hat sich Nossiter von Michael Moore abgeschaut: Man filmt dort, wo einem möglicherweise der Zutritt verwehrt wird. Leider hat Nossiter nicht annähernd die Schärfe und den Humor von Moore. Einmal sieht man einen jungen französischen Winzer, der die Weinleser anbrüllt, weil sie nicht alle Trauben abgeerntet haben. Der Winzer ist – so will es die Slow-Food-Logik des Films – einer von den Guten, da er die Tradition wahrt, indem er den Familienbetrieb fortführt. Nossiter hätte gut daran getan, sich bei den Arbeitern zu erkundigen, was der Wein für sie bedeutet.

Merkwürdige Dinge geschehen auch außerhalb der Kinos: Eben noch schien der Konflikt zwischen der Festivalleitung und den Intermittents beigelegt. Nun könnte der Konflikt wieder aufflammen, unter anderem weil sich die Intermittents offenbar untereinander uneins darüber sind, ob man mit dem Entgegenkommen der Festivalleitung zufrieden sein soll. Hinzu kommt, dass am Mittwoch die Angestellten des Carlton-Hotels gestreikt haben. Untergebracht sind in dem direkt an der Croisette gelegenen Traditionshaus unter anderen Quentin Tarantino, der diesjährige Präsident der Jury, und Brad Pitt, der in Wolfgang Petersens Sandalenspektakel „Troja“ Haut und Muskeln zeigt. Die Angestellten des Carlton verlangen 200 Euro Bonus für die Zeit des Festivals und 200 Euro am Jahresende. Der Hoteldirektor findet das „nicht akzeptabel“. Ein Zimmermädchen schimpft derweil: „Sie speisen uns mit Krümeln ab, aber wir wollen unser Stück vom Kuchen!“

Bei so viel Streit nimmt es nicht wunder, wenn sich die Leinwand in ein Schlachtfeld verwandelt, sobald Emir Kusturica die Szene betritt. Sein Wettbewerbsbeitrag „Zivot je cudo“ („Das Leben ist ein Wunder“), angesiedelt in einem bosnischen Dorf im Sommer und Herbst 1992, atmet Chaos und Getöse ohne Unterlass. Hält eine Figur einen Teller in der Hand, wird sie ihn im nächsten Augenblick gegen die Wand werfen; ist eine Tafel festlich gedeckt, wird ein Hund sie verwüsten, und kommt das Personal des Films ausnahmsweise zur Ruhe, werden im nächsten Moment Granaten einschlagen. „Zivot je cudo“ ist eine Kakophonie von Bildern und Tönen, und damit es nicht langweilig wird, hat Kusturica neben seinen Figuren noch einen ganzen Kleintierzoo mitgebracht. So wie Hund und Katze sich streiten, so streiten sich auch die recht grob gezeichneten Figuren – und dies relativ unabhängig davon, dass sie eben noch Nachbarn und nun Serben beziehungsweise Muslime sind.

Mag zunächst noch ein gewisser Reiz darin liegen, dass die Form des Films so sehr entgleitet, ist die Gefahr der Ermüdung bald größer. Einmal feuert ein Soldat eine Bazooka ab, er summt „The End“ von The Doors, während das Ziel, ein Öltransport, in Flammen aufgeht. Kusturica möchte damit Francis Ford Coppolas Vietnamfilm „Apocalypse Now“ evozieren, doch er illustriert vor allem seine eigene Hilflosigkeit. CRISTINA NORD