„Man weiß nie, ob man ankommt“

Ihn beschäftigt die Spannung zwischen der Schönheit des Einzelnen und seiner Sehnsucht, zu einer Gemeinschaft zu gehören: Ein Gespräch mit dem belgischen Tanztheater-Choreografen Alain Platel, mit dessen Stück „Wolf“, über die Musik Mozarts, das diesjährige Theatertreffen in Berlin abschließt

InterviewKATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Sie Sind Theaterleiter in Gent, einer kleinen Stadt mit einem alten Kern und einer Menge junger Studenten. Dort haben Sie die Truppe Les Ballets C de la B gegründet. Was bedeutet das Leben in Gent für Sie?

Alain Platel: Alles. Ich wurde oft eingeladen, in anderen Städte zu kommen. Aber ich muss jede Arbeit in Gent beginnen. Das ist emotional: Ich brauche nicht viel, aber ich brauche die Steine der Stadt, meinen täglichen Weg mit dem Fahrrad, meine Bücher.

Mich beschäftigt sehr die Spannung zwischen dem Individuum und seiner Sehnsucht, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Ich glaube, da die alten Institutionen der Gemeinschaft wie Kirchen, Parteien, Gemeinden, Länder nicht mehr befriedigend funktionieren, müssen wir neue Formen finden. Gent ist dafür ein schönes Experiment gelungen: Eine alte Stadt, die vor zwanzig Jahren völlig runtergekommen und schmutzig war; aber die Stadtregierung hat sich seitdem um eine große Offenheit gegenüber der Welt gekümmert. Als ob eine alte Stadt ihre Mauern verloren hätte, gibt es jetzt viele Links zur Welt. Deshalb gefällt es mir da.

In „Wolf“ arbeiten Sie mit Tänzern und Performern aus Argentinien, Brasilien, Belgien, Burkina Faso, Frankreich, Vietnam und der Demokratischen Republik Kongo zusammen. Aber Sie selbst brauchen die Verankerung in einer Stadt. Warum ist ihr Wunsch nach Cross-Culture so drängend?

Belgien ist sehr attraktiv für zeitgenössische Tänzer, besonders Brüssel. Sie kommen wegen der Schulen und der Auditions. Für meine Vorstellungen suche ich nach Performern, die sehr unterschiedlich sind. In „Wolf“ ist das offensichtlich, die Unterschiede werden physisch sichtbar.

Diese Suche nach Differenz hat mit meinem Blick auf die Welt zu tun. Es ist zum Beispiel aufregend zu sehen, wie wir mit dem erweiterten Europa klarkommen. Ich glaube, wir werden große Probleme bekommen. Im Allgemeinen wird die Idee zwar akzeptiert, dass Europa als Einheit vieles vereinfacht, Reisen, Währung usw. Aber zugleich sieht man, wie der Wunsch wächst, nationale Identität auszudrücken. Leute aus Polen wollen nicht mit Franzosen verwechselt werden. Das wird lange dauern, bevor man sich zuerst europäisch fühlt. Das Ende des Prozesses ist, zu erkennen, dass wir alle Menschen sind; aber bis dahin, fürchte ich, wird es viele Kriege geben.

Beschäftigt Sie die Drohung des Krieges auf der Bühne?

Ja, aber nicht als Notwendigkeit oder Tendenz, jeder muss das für sich entscheiden. Für mich gibt es keinen Weg, dem auszuweichen. Seit drei Jahren beschäftigt mich ein Projekt in Palästina; das kann ich nicht außerhalb des Studios lassen. Man weiß bei keinem Besuch, ob man ankommt, ob man arbeiten kann.

Wie kamen Sie dahin?

Das kam wie vieles zufällig. In Brüssel wurde nach Künstler gesucht, die soziale und kulturelle Einrichtungen in den besetzten Gebieten Palästinas besuchen wollten, 2001. Damals arbeitete ich gerade mit einem israelischen Tänzer und wollte gerne die andere Seite kennen lernen. Wir kamen gerade, als der gewaltsame Konflikt eskalierte; wir mussten aus Ramallah fliehen. Aber dann erhielt ich gute Kontakte zu Leuten in Ramallah; wir begannen langfristige Kooperationen. Das ist schon eine extreme Konfrontation; zum Beispiel zu sehen, was die Menschen in Palästina von zeitgenössischem Tanz erwarten. Wie anders sie sich ausdrücken. Was hier akzeptiert ist, woran wir uns gewöhnt haben, wird dort ganz anders wahrgenommen. Man lernt viel, vor allem über den Wettstreit von östlichem und westlichem Denken. Und man merkt; auf diesem Feld entscheidet sich, ob die Optionen Krieg oder Frieden heißen.

In „Wolf“ gibt es einen Moment, in dem alle Performer die Internationale aufführen, sehr sexy, mit den Händen auf ihre Schenkel klatschend. Wie kam es zu dieser Idee?

Ich liebe das Lied. Man kann „Wolf“ unterschiedlich sehen: als unterhaltendes Stück über die Schönheit des Einzelnen. Oder als Stück über Mozart, das finde ich persönlich sehr wichtig, wie eklektizistisch sein Charakter war. Dann gibt es das Thema der Spannung zwischen der Schönheit des Einzelnen und seinem Wunsch der Zugehörigkeit; wenn man das als Leitmotiv nimmt, dann ist die Internationale der erste Moment, an dem alle diese Performer versuchen, zusammenzukommen. Für mich beinhaltet das Lied noch immer ein Ideal, eine Utopie.

Sowohl in „Its op Bach“ als auch in „Wolf“ arbeiten Sie einerseits mit der Musik von Bach und Mozart, live und von sehr guten Ensembles auf die Bühne gebracht, andererseits sind die Stücke in einer sehr heutigen Welt von Campingplätzen, Zirkus, Comic, Karaoke-Bars, Shopping-Malls angesiedelt. Haben Sie das Gefühl, Bach und Mozart aus der üblichen Rezeption von klassischer Musik befreien zu müssen?

Das will ich klarstellen: ich wollte die Musik nie missbrauchen oder mich darüber lustig machen. Aber es gibt so viele historische und authentische Interpretationen, dass ich mich frei fühle, eine eigene zu wagen. Es geht um die Freiheit des Umgangs; durch die lange Rezeptionsgeschichte ist diese Musik zu einer Einschüchterung geworden. Den Musikern gefiel es, dass sich jemand naiv und ohne ihr Wissen der Musik näherte.

In „Wolf“ ändert sich jedes Thema auf der Bühne. Am Ende zum Beispiel gibt es eine Sequenz, die erinnert an ein Showdown im Kino, Gewalt in Slowmotion. Aber die Todesbilder verändern sich wieder und die Lust der Selbstdarstellung bricht hervor. Wie erreichen Sie diese Offenheit?

Ich habe immer Angst, dass nur eine Schicht der Botschaft empfangen werden könnte und deshalb den Hang, meine Stücke zu überfüllen. Ich glaube, in der Überlagerung von beispielsweise poetischen und hysterischen Ebenen die Sinne zu wecken. Vielleicht wird man empfänglicher, wenn man der eigenen Wahrnehmung zu misstrauen beginnt. Auch die Figuren entwickeln sich in alle möglichen Richtungen, von Weichheit zu Härte, von Schönheit zu Hässlichkeit. Immer, wenn ich glaube, jetzt weiß man, wie der Hase läuft, versuche ich umzuschalten.

Das macht es schwer, das Stück zu erinnern. Versuchen Sie die ganze Zeit, alles Bisherige wieder wegzuwischen?

So ist das Leben. Können Sie sich erinnern, was Sie gestern gemacht haben? Ich bin überzeugt, Theater ist die Kunstform, die am allermeisten mit Leben und Tod zu tun hat. Es existiert nur so lange wie man auftritt.

Sie haben mit ihren Stücken großen Erfolg, trotzdem wollten Sie sich vor „Wolf“ als Choreograf zurückziehen?

Ich brauchte Abstand. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit zehn Jahren immer mit Produktionen und Tourneen beschäftigt, das wurde Routine. Viele Anfragen kamen, und das Neinsagen ist schwer. Ich musste einmal sehr laut Nein sagen, um diese Entwicklung zu stoppen. Ich habe dann begonnen, die Gebärdensprache zu lernen. Aber ich habe das Studio, den Prozess, mit anderen ein Stück zu machen, doch so vermisst, ich kam zurück.

Sie haben mit Behinderten gearbeitet, bevor Sie mit Tanz und Theater begannen. Was ist davon geblieben?

Ich war Heilpädagoge – eine Bezeichnung für den Beruf gibt es übrigens nur im Deutschen. Als Heilpädagoge wurde ich oft mit Fragen konfrontiert, die grausam klingen: Warum leben diese Kinder? Warum bist du hier? Man ist so abhängig, welche Zukunft hast du? Ähnliche Fragen beschäftigen mich in der Arbeit mit Künstlern: Was macht dich einzigartig, was willst du zeigen, was unterscheidet dich?

Einzigartig zu sein, das ist eine harte Forderung. Muss jeder einzigartig sein?

Ich glaube fest, dass jeder das ist. Und dass die Spannung dazwischen und der Sehnsucht der Zugehörigkeit sehr stark ist, danach, erkannt und anerkannt in einer Gruppe zu sein.

In Belgien haben sich freie Compagnien oft in den 80er-Jahren gegründet, haben einen viel größeren Ruf als etablierte Stadttheater erarbeitet. Wie wichtig war die Befreiung aus den Infrastukturen des Spartendenkens?

Theater ist eine offene Kunstform und es ist nicht notwendig, das in Oper, Sprechtheater, Tanz auseinander zu nehmen. Ich habe als Amateur begonnen, und in der Phase der Professionalisierung zuerst fast ohne Mittel gearbeitet, auf der Basis von Arbeitslosengeld. Dann kam langsam die Anerkennung und Unterstützung. Ich persönlich habe keine Angst, zurückzugehen zu bestimmten Situationen. Aber ich denke auch an die Menschen, mit denen ich arbeite, und Künstler sollten nicht in armen Umständen arbeiten. Da bin ich glücklich, die Leute bezahlen zu können. Verglichen mit anderen Ländern ist das noch immer sehr wenig.

Als ich anfing, war die Situation so, dass es in Belgien nur sehr altmodischen Tanz und altmodisches Theater gab. Es gab nichts außer Béjart, der Belgien gerade verlassen hatte. Zeitgenössischer Tanz und Theater waren ein unbesetztes Feld: Das machte es einfach, etwas anderes dagegenzusetzen. Deshalb konnten Jan Fabre, Ann Teresa de Keersmaker, Vim Vandekeybus und Jan Lauwers soviel entwickeln. Für junge Tänzer heute ist das viel komplizierter, ihre eigenen Statements zu geben, sie haben inzwischen ja Mütter und Väter.