Writer’s Writer

Sein Einfluss auf das literarische und journalistische Schreiben in Westdeutschland kann kaum überschätzt werden: Jörg Schröder, der legendäre MÄRZ-Verleger, las bei „Neue Dokumente“

VON DETLEF KUHLBRODT

Am Anfang der Schönhauser Allee befindet sich eine ehemalige Apotheke, deren weiß gestrichenen Räume derzeit von einem Verein, der sich „Neue Dokumente“ nennt und eine Zeitschrift namens Freier – das Magazin für Befindlichkeit herausgibt, zwischengenutzt werden. Hier las am Samstag nun Jörg Schröder. Schröder ist Legende. Von 1969 bis 1987 hatte er den 68er-Verlag „MÄRZ“ gemacht. Dessen gelbe Bücher mit den auffälligen schwarz-roten Titeln lagen bis Ende der Achtziger bei jedem herum, den man irgendwie ernst nahm. Bei MÄRZ erschienen unter anderem: Bernward Vespers experimentelle Autobiografie „Die Reise“, Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“, die Werkausgabe von Upton Sinclair, die von Rolf Dieter Brinkmann und das von Rainer Rygulla herausgegebene März-Buch „ACID“ mit amerikanischer Undergroundliteratur der 60er-Jahre und schließlich Günter Amendts „Sex-Front“. Finanziert wurde MÄRZ durch pornografisch-literarische Bücher wie „Die Geschichte der O“, die in Schröders zweitem Verlag „Olympia-Press“ erschien.

Als Erzähler wurde Schröder durch seine 1972 erschienene Autobiografie „Siegfried“ berühmt, ein Buch, dass sich ungefähr hunderttausendmal verkaufte und für ziemlichen Skandal sorgte, weil Schröder darauf verzichtet hatte, die geschwätzigen, unfähigen, intriganten Personen in dem Buch – einem Who’s who quasi der bundesrepublikanischen Kultur- und Verlagsszene der 60er-Jahre – zu anonymisieren. Viele waren dann sehr verärgert und überzogen den Verlag mit Klagen oder wechselten sogar ihre Namen, nachdem „Siegfried“ erschienen war. Der Autor selbst war nicht allzu schonend mit sich umgegangen. Ein wahnsinnig umtriebiger Mann, der schnell Karriere gemacht hatte, sein Geld im Puff verballerte, viel trank, zeitweise Jaguar fuhr, vom Millionär zum Bankrotteur wurde, sich einerseits zynisch, andererseits zutiefst romantisch gerierte, zwischen wahnwitziger Umtriebigkeit und Apathie schwankend.

Wenn man’s noch mal liest, wirkt das Buch nicht mehr so skandalös. Die meisten Protagonisten kennt man eh nicht mehr. Auffälliger ist die Schreibweise. Bis heute schreibt Schröder nicht, sondern spricht auf Tonband. Bearbeitet wirkt das sehr lebendig. Dazu kommt einem „Siegfried“ sehr romantisch-existenzialistisch vor, in der Tradition etwa von Rousseau, Franz Jungs „Weg nach unten“; wie ein Buch also, das jemand schrieb, um sich von seiner Vergangenheit zu befreien, wie andere Leute halt eine Psychoanalyse machen: Am Anfang, in den 40ern, gibt’s das traumatische Erlebnis, als kleiner Junge tauscht Schröder mit einem kleinen Mädchen im Sandkasten Zärtlichkeiten aus und wird dafür aufs Übelste von seinem Ziehvater „Siegfried“ verhauen. Das verwindet er nicht, kann sich jahrelang nicht mehr verlieben, lebt sehr promiskuitiv und geht viel in den Puff. Gegen Ende von „Siegfried“ heißt es: „Man hat etwas, was gewesen ist, für sich sichtbar gemacht und damit hat man alles Frühere ausgelöscht. Etwas Neues muss beginnen, aber da ist nichts Gewesenes mehr, auf das du dich stützen kannst, an dem du dich festhalten kannst, du musst neu auf null beginnen.“ Irgendwann kamen dann Barbara Kalender, mit der Schröder heute noch in Augsburg zusammenlebt, und seine vierteljährlichen, etwa 50-seitigen „Schröder erzählt“-Sachen, die er im Publish-on-demand-Verfahren vertreibt, an etwa 500 Subskribenten. Schröders Texte sind wunderbar und verknüpfen alles mit allem. Sein Einfluss auf das literarische und journalistische Schreiben in Westdeutschland kann kaum überschätzt werden.

Mittlerweile, 30 Jahre nach Siegfried, ist der Autor logischerweise auch nicht mehr so aggressiv. Wäre ja auch albern, wie Iggy Pop noch mal mit den Stooges aufzutreten. Kurz vor der Lesung blickt er ins Publikum und sagt: „Falls jemand da ist, den ich erkennen müsste, aber nicht erkenne, so möchte der nach vorne kommen.“ Er trägt ein grünes Jackett und hat eine angenehme Vorlesestimme. Was er liest, ist meist lustig, auch wenn in den kürzeren, pointenorientierten Sachen die große spezifisch schrödersche Kunst der weitschweifigen Verknüpfung, Verästelung von diesem und jenem – von „Schröders Kotze“ zu „Schrödingers Katze“ – etwas verloren geht. Es gibt alte Hits halt wie die Geschichte von der Petrarca-Preis-Verleihung, bei der Peter Handke aus ungeschickter Freude ungeschickte Vorwärtsrollen machte, und Sachen, die man noch nicht kennt.

Vor zehn Jahren hatte er zuletzt mit Wiglaf Droste in der Volksbühne gelesen. Vielleicht ist er auch ein Writer’s Writer. Françoise Cactus und Brezel Göring sitzen auch im Publikum. Am Ende stellt er die 13 Bücher einer MÄRZ-Kassette, die grad erschienen ist, noch einmal vor. Schröders „Siegfried“ gibt es zurzeit bei Wohlthat in der Budapester Straße für 3,95 €. Seine aktuellen „Schröder-erzählt“-Texte kann man auch übers Internet (www.MÄRZ.de) ordern.