Fahrige Bilder

Cannes Cannes (6): Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ und der deutsche Beitrag „Die fetten Jahre sind vorbei“

„Man könnte es für Sabotage halten“, grummelt es hinter mir in dem Shuttlewagen, der uns nach Cagnes-sur-mer bringt. Der Nachmittag ist sonnig, in der Ferne ragen die verschneiten Gipfel der Alpen auf, unter uns erstreckt sich das Meer. Dieter Kosslick lädt zum Berlinale-Empfang in eine Villa außerhalb von Cannes, es wird ein Nachmittag aus sanft knirschendem Kies, Schatten spendenden Palmwedeln und schönem Geplauder. Warum also Sabotage?

Weil „Die fetten Jahre sind vorbei“, der seit über einem Jahrzehnt erste deutsche Film, der im Wettbewerb von Cannes vertreten ist, der Presse zu einem ungünstigen Zeitpunkt gezeigt wird. Nämlich am Montagmorgen um 8.30 Uhr; um 11 Uhr wird Michael Moores Dokumentarfilm „Fahrenheit 9/11“ in zwei kleineren Sälen des Palais zu sehen sein. Leicht kann man sich ausmalen, wie die Journalisten aus Weingartners mehr als zweistündigem Film herauslaufen, um sich in die Schlangen für „Fahrenheit 9/11“ einzureihen.

Und sie tun es tatsächlich. Über Moores Frontalangriff gegen George W. Bush muss spätestens seit dem Streit zwischen Disney und Miramax jeder berichten, selbst wenn es nichts zu berichten gibt, was man nicht schon wüsste: Moore ist ein Patriot, er hat ein Faible für die entlarvende Parallelmontage, er nimmt die saudi-arabischen Ölmagnaten in visuelle Sippenhaftung, er mag die Bilder des unbeholfenen Präsidenten und die der weinenden Lila Lipscomb aus seiner Heimatstadt Flint, Michigan, deren Sohn im Irak gefallen ist. Dabei montiert er seine Informationen stets so, dass sie in seine Theorien passen; und wenn es ihm nicht in den Sinn kommt, über das Attentat in Madrid am 11. März zu sprechen, dann tut er es nicht. In Moores Augen ist al-Qaida vor allem ein Vorwand, die Menschen in den USA in Angst zu versetzen, sodass die Bürgerrechte beschnitten werden können und niemand nachhakt, wenn die Familie Bush im Irak, in Afghanistan oder Saudi-Arabien Geschäfte macht.

Das ist eine einfache Sicht auf die Dinge; und sie ist auf eine traurige Art überholt. Nachdem Moore „Fahrenheit 9/11“ fertig gestellt hatte, wurde bekannt, was im Gefängnis von Abu Ghraib und anderswo geschehen ist. Angesichts des Totalzusammenbruchs der so genannten westlichen Werte nehmen sich Moores Öl-Verschwörungstheorien recht harmlos aus.

Und „Die fetten Jahre sind vorbei“? Zunächst einmal bedarf es einer Klarstellung: Es handelt sich nicht um einen deutschen Film, sondern um eine deutsch-österreichische Koproduktion. Der Regisseur lebt in Berlin, er hat einen österreichischen Pass, und meine Wiener Kollegen sehen den Film als österreichischen Beitrag zum Wettbewerb. Woraus hervorgeht, dass das Kriterium Nationalität im Kino von beschränktem Nutzen ist. Die schwierigere Frage ist denn auch die: Was wäre, wenn „Die fetten Jahre …“ zu jenen Filmen zählte, aus denen man ohne Bedauern herausgehen könnte?

Nun, man hätte die schöne Schlusspointe verpasst, die hier natürlich nicht verraten werden kann. Doch das ändert nichts daran, dass Weingartners Film an „Das weiße Rauschen“ nicht heranreicht. In seinem Debüt investierte er in die Hauptfigur anstatt in den Plot, in „Die fetten Jahre …“ hingegen möchte er viel erzählen und dieses Viele unentwegt rechtfertigen. Scriptdoktoren und Drehbuchförderer wissen: Dinge dürfen in Filmen nicht einfach geschehen, sie bedürfen der Motivation, denn die Beliebigkeit und der Leerlauf des Lebens taugen nicht fürs Kino. Offenbar hat sich Weingartner diese Rezepte zu Herzen genommen, denn sie bestimmen, welches Verhältnis die Figuren zueinander haben und welchen Gang die Geschichte nimmt.

Die Protagonisten Jan (Daniel Bruehl), Peter (Stipe Erceg) und Jule (Julia Jentsch) sind globalisierungsskeptische junge Menschen in Berlin, sie protestieren gegen die Ausbeutung in thailändischen Turnschuhfabriken, und weil das nichts ändert, brechen sie in Zehlendorfer Villen ein, um dort die Porzellansammlung in der Kloschüssel aufzuschichten. Ihr Bekennerschreiben lautet „Die fetten Jahre sind vorbei“. Gefilmt ist das mit der Digitalkamera und ohne zusätzliches Licht. Fahrige Bilder entstehen dabei; Weingartner traut ihnen wenig zu, er packt lieber alles, was man wissen muss, in den Dialog. Das ist keine gute Idee, führt aber hier und da zu wunderbaren Repliken.

Der Ex-68er Hardenberg (Burghart Klaussner) zum Beispiel sagt einmal: „Weißt du, irgendwann stehst du in der Wahlkabine und ertappst dich dabei, wie du dein Kreuz bei der CDU machst.“ Besser lässt sich Resignation nicht resümieren.

CRISTINA NORD