Wie viel Eigensinn darf es denn sein?

Ein Reizthema kursiert auf kulturwissenschaftlichen Kongressen: das der ästhetischen Bildung. Schließlich ist es zum wohlfeilen Statement geronnen, mehr Bildung zu fordern. Aber die schwer kontrollierbare Luftigkeit eines ästhetischen Bildungsbegriffs bleibt Politikern und Ökonomen suspekt

Der Nutzen ästhetischer Bildung besteht gerade in der Unnützlichkeit

VON GISA FUNCK

Ein Etikettenschwindel im großen Stil macht derzeit die Runde. Bildung ist neuerdings zum politischen Totschlagargument quer durch die Parteien avanciert. Wer auch immer vor einem „Bildungsdefizit“ warnt, hat gute Karten. Nur: Mit Bildung im eigentlichen Sinne hat das in der Regel wenig zu tun, wie Kulturwissenschaftler und Pädagogen schon länger bemängeln.

Nun fand bereits die vierte große Tagung in diesem Jahr zum Reizthema statt, bei dem Ökonomen gern die Augen verdrehen. „Zukunft durch ästhetische Bildung“, lautete die Kongress-Überschrift ebenso kämpferisch wie unbestimmt, zu der das Kulturwissenschaftliche Institut Essen zusammen mit dem Deutschen Bühnenverein eingeladen hatte. Aber das Unbestimmte liegt nun einmal in der Natur der Sache (auch wenn Bildungspolitiker es nicht wahrhaben wollen). Man braucht gar nicht erst bis zu Wilhelm von Humboldt oder Friedrich Schiller zurückzugehen, die beide den aus der mittelalterlichen Mystiklehre stammenden Terminus im Idealismus des 18. Jahrhunderts neu geprägt haben, um zu erkennen, dass wahre Bildung stets experimentellen Freiraum braucht. Selbst die nüchternen Fakten der Wissenschaft, etwa die Untersuchungsergebnisse der Hirnforschung, belegen, dass eine frühe Beschäftigung mit Kunst und Musik im Kleinkind- und Jugendalter die Ausprägung von Intelligenz entscheidend fördern.

Der spielerische Umgang mit Tönen, Farben und Bildern begünstigt die Neuronenvernetzung, ermittelte etwa der Hirnforscher Wolf Singer. Daneben rät jeder Lernratgeber dazu, Lernen möglichst mit rhythmischem Klatschen oder einer Schrittfolge zu begleiten, weil man die Vokabeln dann besser im Kopf behält. Kreative Tätigkeiten, so die eigentlich recht simple Diagnose, regen die Geistestätigkeit an. Nicht umsonst spielte die ästhetische Bildung in allen erfolgreichen pädagogischen Konzepten von den alten Griechen über Humboldt bis hin zu Carl Rogers oder der Waldorfschule eine zentrale Rolle. Was Bildungsreformer hierzulande allerdings nicht davon abhält, die Beschäftigung mit den schönen Künsten weiter zu stutzen.

In der allgemeinen Hysterie nach dem deutschen Pisa-Debakel drohen die kreativen „Orchideen“-Fächer an den Universitäten und Schulen nun vollends zur Marginalie zu schrumpfen. Gemäß dem herrschenden Credo einer am Markt orientierten Lerneffizienz werden Kunst-, Musik-, Literatur- und Theaterkurse da noch bereitwilliger als früher gestrichen. Und monatelange Ausfälle des Musik- und Kunstunterrichts werden noch widerstandsloser von Eltern und Schülern hingenommen.

Ästhetische Bildung genießt in Deutschland wahrscheinlich einen so miserablen Ruf wie noch nie zuvor – mit dem immer gleichen Argument, dass man schließlich nicht wüsste, was „hinten dabei herauskommen“ soll. Dass ihr Nutzen indes womöglich gerade in einer vermeintlichen Unnützlichkeit bestehen könnte, mit der man ein Kunstwerk betrachtet, einer Musik lauscht, sich an Literatur erfreut oder – umgekehrt – selbst malt, musiziert, dichtet, liest und vor allem: eigenen Gedanken nachhängt, das leuchtet vielen leider nicht ein. Bildung, die im klassischen Sinne einen letztlich lebenslangen Prozess bezeichnet, ist statistisch nicht messbar – und genau das macht sie heute umso verdächtiger.

Insofern sprechen zwar auch Ökonomen und Politiker dann einerseits gern davon, einen Nachwuchs fördern zu wollen, der möglichst eigensinnig, kreativ und urteilsfähig ist. Andererseits aber ist ihnen die schwer kontrollierbare Luftigkeit eines ursprünglichen Bildungsbegriffs in der Regel suspekt, der doch gleichzeitig erst die Voraussetzung für solche Eigenschaften darstellt. Ein Dilemma mit langer Tradition, wie Johannes Bilstein, Pädagogikprofessor an der Kunstakademie Düsseldorf, recherchiert hat. „Bildung“, sagt er, „meint immer auch Fähigkeiten, Obsessionen, Ergriffenheiten im Leben, die weit über das hinausgehen, was man für den jeweiligen Beruf gebrauchen kann. Insofern ist es durchaus die Frage – und das ist ein altes Problem –, ob Obrigkeiten wirklich gerne haben, dass die Menschen gebildet sind. Schließlich steckt in diesem Bildungsbegriff immer auch ein kritisches oder – wenn man so will – emanzipatorisches Potenzial.“

Wirkliche Bildung ist also stets mit einer gewissen Querköpfigkeit gepaart, die viele Bildungsreformer heute jedoch allzu oft ausblenden möchten. Dabei steht fest: Eine Gesellschaft, die Ausbildung zunehmend mit Informationsanhäufung gleichsetzt, enthält einer nachfolgenden Generation nicht nur Freiräume zur Persönlichkeitsentwicklung vor. Sie fördert auch eine Fachidiotie, die wohl kaum jene wandlungsfähigen, neuen Unternehmer und Arbeitnehmer hervorbringen wird, die ein immer wandlungsfähigerer Markt der Zukunft verlangt.