Du bist seine Beute und sein Gefährte

Cannes Cannes (7): Die Augen dieses Tigers sehen einen noch an, wenn die Goldene Palme vergeben sein wird – Apichatpong Weerasethakuls Wettbewerbsfilm „Sud Pralad“

„Monsieur“, sagt der junge Mann, der am Eingang zur Salle Débussy die Taschen kontrolliert, „könnten Sie bitte Ihre Tasche öffnen?“ Ich tue, wie mir geheißen. Der junge Mann bedankt sich: „Merci, Monsieur“, und erschrickt, nachdem ich meine Sonnenbrille abgesetzt habe. „Das tut mir Leid, Madame!“ An einer anderen Einlasskontrolle – dahinter ist eine Staatsministerin im Begriff, von Erfolg, Selbstbewusstsein und Stolz des deutschen Films zu sprechen, als umfasste ihr Kinovokabular nur diese Begriffe – steht eine junge Frau auf halsbrecherischen Schuhen. Als sie sich zu mir umdreht, sind ihre Pupillen so geweitet, dass das Schwarz über die Ränder der Iris hinausschimmert.

Solche Augen muss ich am Montagabend gehabt haben, als ich Apichatpong Weerasethakuls Wettbewerbsfilm „Sud Pralad“ („Tropical Malady“) sah. Der junge thailändische Regisseur war schon einmal in Cannes. Vor zwei Jahren zeigte er in der Quinzaine des réalisateurs sein Spielfilmdebüt „Blissfully yours“. Ein rätselhafter Film war das: Der Vorspann lief, nachdem zwei Drittel des Films verstrichen waren, eine Einstellung mochte 20 Minuten dauern, und man sah darin nichts als ein regloses Paar, hingebettet auf eine Lichtung im Wald. Es war hypnotisierend, und „Sud Pralad“ ist es nicht minder.

In beiden Filmen treibt der Regisseur ein dekonstruktivistisches Spiel mit den Grundlagen des Kinos: Der Vorspann rückt vom Anfang weg, in der Mitte bricht der erste, ohnehin lose Plot ab, um einem ganz anderen Platz zu machen; und darüber, wie beide Plots zusammenhängen, lässt sich lange grübeln. Weerasethakul beobachtet zunächst, wie zwischen zwei Männern, dem Soldaten Keng und dem Bauernjungen Tong, langsam die Verliebtheit wächst. Man sieht die beiden im Kino und während eines Wolkenbruchs im Wald, sie reden über „The Clash“, steigen in eine Grotte und küssen sich erst zögerlich, dann begierig die Hände.

Nach einer Zäsur – die Leinwand bleibt für eine Minute schwarz – begibt sich „Sud Pralad“ ins Reich der Legenden. Nun geht es um einen Schamanen, der sich nachts in einen Tiger verwandelt. Keng, der Soldat, folgt diesem Wesen, das Fantasie, Tier und Mensch zugleich ist. In einem der funkelnden Augenblicke des Films hat Keng eben noch den Abdruck eines Menschenfußes untersucht, der nächste Abdruck ist der einer Tigertatze. Der Wald ist verzaubert, ohne dass sich der Film deswegen im Märchenhaften verlöre. Denn Weerasethakul hat eine große Gabe: Er fängt die Physis sowohl der Figuren als auch des Schauplatzes ein. Darin gleicht er dem argentinischen Regisseur Lisandro Alonso, der in diesem Jahr in der Quinzaine des réalisateurs seinen Spielfilm „Los muertos“ („Die Toten“) vorstellt: Beide laden ihre Bilder mit einer mythischen Dimension auf, sind aber zugleich virtuos, wenn es um Körperlichkeit, Licht und Ton geht. Sosehr der Wald Schauplatz einer Fantasie ist, so hat er doch physische Präsenz – dank der Blutegel, des Grillenzirpens, der Spiele von Licht und Schatten.

Damit man die nötigen Informationen über die Legende des Schamanen erhält, wird der zweite Teil von „Sud Pralad“ mit Schriftinserts unterlegt wie ein Stummfilm. Zugleich lässt Weerasethakul einen Affen zu Wort kommen: „Der Tiger folgt dir wie ein Schatten“, sagt er zu Keng, „du bist seine Beute und sein Gefährte. Töte ihn, wenn du ihn aus seiner Welt befreien willst. Lass dich von ihm verschlingen, wenn du in seine Welt eintreten willst.“ „Sud Pralad“ muss nicht erklären, wofür sich Keng entscheidet. Und wer weiß, vielleicht war alles nur ein Traum. Aber die Augen des Tigers, da bin ich mir sicher, werden mich noch anschauen, wenn die Goldene Palme längst vergeben ist. CRISTINA NORD