„Die Gelassenheit täuscht“

Gerhard Schröder hat sich öffentlich eine Ohrfeige eingefangen. Ist das Bild des Bundeskanzlers nun beschädigt? Psychoanalytiker Micha Hilgers über beschämende Verletzungen und Rachegelüste

INTERVIEW STEFAN KUZMANY

taz: Herr Hilgers, wie unterscheidet sich die Ohrfeige, die Gerhard Schröder bekommen hat, von einem Fausthieb?

Micha Hilgers: Ein Fausthieb ist eine bewusste körperliche Schädigung, die meistens instrumentell eingesetzt wird. Die Ohrfeige zielt dagegen meistens auf eine psychische Verletzung ab – jedenfalls in diesem Fall. Besonders dann, wenn es sich um eine öffentliche Ohrfeige handelt – dann ist die Beschädigung des Selbst der geohrfeigten Person noch größer.

Wäre ein Farbbeutelwurf nicht noch effektiver gewesen?

Der Farbbeutel ist eine Distanzwaffe – er kommt von irgendwo her. Eine Ohrfeige ist eine unmittelbare Interaktion zwischen zwei konkreten Personen. Sie ist also insofern viel konkreter. Damit ist die Verletzung auch viel größer.

Wie kann man angemessen reagieren? Zurückschlagen?

Da gibt es kein Patentmittel. Zumal die Ohrfeige uns ja alle an kindliche Zeiten erinnert und sie insofern das Opfer – jedenfalls für einen Moment lang – in eine infantile Position bringt, ohnmächtig macht und beschämt. Es gibt zwei Möglichkeiten: mit Gegengewalt zu reagieren, Wiedergutmachung herzustellen und die Ohnmacht an den anderen abzugeben. Oder die Ohnmachtssituation, die im Moment besteht, zu akzeptieren. Das ist die Gelassenheit, die der Kanzler gezeigt hat.

Der Mann, der Schröder geohrfeigt hat, ist arbeitsloser Lehrer. Wollte er den Kanzler erziehen?

Nein. Bei dieser Art Täter muss man damit rechnen, dass man es mit der ganzen Bandbreite zu tun hat. Es kann jemand sein, der aus politischen Überlegungen heraus eine „Erziehungsmaßnahme“ durchführen wollte. Es kann aber auch jemand mit einer Psychose sein, wie die Lafontaine-Attentäterin damals. Prominente ziehen grundsätzlich auch Verrückte auf sich.

Kann man das Verfassungsorgan „Bundeskanzler“ ohrfeigen? Oder trifft man immer nur die Person, in diesem Fall Gerhard Schröder?

Ach, die Person Gerhard Schröder ist doch da vollkommen uninteressant. Insofern sind auch der Täter und seine Motive uninteressant. Das, was wirkt, ist die Ohrfeige gegen das Verfassungsorgan beziehungsweise die Person, die dieses Amt im Moment ausübt. Das ist das, was öffentlich wahrgenommen wird, das ruft zahlreiche Affekte hervor, Empörung, Rachegelüste, aber auch klammheimliche Freude.

Verändert diese Ohrfeige etwas im öffentlichen Bild des Kanzlers – so wie der Eierwurf auf Kohl?

Bei Kohl gab es diese Veränderung nur, weil er so heftig reagiert hat. Schröder hat sehr gelassen reagiert. Ich glaube nicht, dass das viel verändern wird. In dem Moment, wo er sich sehr beschämt, sehr getroffen, psychisch verletzt gezeigt hätte, könnte das eine Beschädigung zur Folge haben. Oder umgekehrt auch eine positive Veränderung: So wie bei Kohl damals, der als Mann erschien, der sich durchaus zu wehren weiß.

Welche Rolle spielt dabei das Publikum?

Wenn Sie von Ihrer Freundin in einer intimen Situation geohrfeigt werden – was Ihnen nicht zu wünschen ist –, dann ist das noch aushaltbar. Wenn Sie aber vor einer großen Menschenmenge geohrfeigt werden, noch dazu von einer wildfremden Person, dann ist die Beschämung wesentlich größer.

Wird Schröder aus dieser Ohrfeige lernen – oder geht das spurlos an ihm vorüber?

Es handelt sich dabei um ein Attentat, wenn auch im Kleinen. Und so etwas geht bestimmt nicht spurlos an Attentatsopfern vorüber. Natürlich werden die in der Regel zur Tagesordnung übergehen. Aber Übergriffe haben eine psychische Langzeitwirkung, das kommt häufig in der einen oder anderen Form wieder: in Träumen, in Gedanken, in Beschäftigung damit, dass das Ereignis möglicherweise wieder blitzartig in einem auftaucht. Es täuscht, wenn solche Leute nach derartigen Übergriffen erst mal sehr normal, sehr gelassen wirken. In der Regel ist das doch eine erhebliche psychische Verletzung – und so ist sie auch gedacht.